Bertolt Brecht (geb. 10.2.1898 Augsburg, gest. 14.8.1956 Berlin, Dichter, Theatertheoretiker und Regisseur; © Kolbe)

Bertolt Brecht (geb. 10.2.1898 Augsburg, gest. 14.8.1956 Berlin, Dichter, Theatertheoretiker und Regisseur; © Kolbe)

Die Romantik des Nützlichen

Bertold Brecht, der statt der Welt nur das Theater änderte und die Lyrik

Es ist Sonnabend, der 21. Februar 1920. Ein junger Mann sitzt im Zug von Augsburg nach Berlin. Dort hofft er, ein Stück zu verkaufen, es heißt Baal. Jetzt, im Zug, schreibt er ein Gedicht. Jahrzehnte später wird man die Erinnerung an die Marie. A. zum Kanon deutscher Lyrik rechnen. Im nächsten Sommer, es ist Freitag, der 17. Juni 1921, wird der Junge, er ist dann gerade mal 23, einen sonderbaren Satz schreiben: Ich beobachte, dass ich anfange, ein Klassiker zu werden.

Später, viel später, da ist die Anmaßung Realität, wird er notieren: der 17. Juni hat die ganze Existenz verfremdet. Er wird einen Brief schreiben an den Werten Genossen Ulbricht, von dem dieser nur Teile veröffentlichen  lässt, und er wird, in diesem Sommer ’53, Buckower Elegien erleiden: Kaum je hat das unauflösliche Zerrissensein prägnanteren und kühleren Ausdruck gefunden als in dem Gedicht Der Radwechsel. Als dieser Zerrissene, der so sein Lebensproblem beschreibt, am 14. August 1956 stirbt, ist er, als Dichter und Regisseur, einer der großen Anreger seines Jahrhunderts. Und ein Kronzeuge seiner Gefährdungen.

Unter den Versuchen, einen der einflussreichsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts zu erklären, unternahm Max Frisch vielleicht den einsichtigsten: Die Faszination, die Brecht hat, schreibe ich dem Umstand zu, dass hier ein Leben wirklich vom Denken aus gelebt wird. Dieser Satz erklärt so gut wie alles, was an einem Menschen überhaupt erklärbar scheint. Allerdings, ein Rest bleibt immer. Dieser Rest begründet die Schwierigkeiten mit dem Menschen Brecht.

Bertolt Brecht hat sein Leben und seine Literatur tatsächlich vom reinen Denken her entwickelt. Und die Frage ist, warum ein Werk, das sich so ganz, so rückhaltlos als im Dienst eines gesellschaftlichen Entwurfes stehend begreift, nicht auch zusammenbricht mit diesem. Die Arbeit eines Künstlers, wenn sie Bestand erwirbt, ist klüger als der, der sie tut. Kunst, wirkliche Kunst entwickelt ein Eigenleben über den Tag hinaus; sie ist aufnahmefähig für Gedanken, die ihr Schöpfer noch nicht kannte, weil es sie noch nicht gab. So, nur so, entsteht Bleibendes. Auch Brechts Stücke verfügen, zu Teilen, über diese Bedingung literarischer Überzeitlichkeit. Allerdings ist dieses Stück Unsterblichkeit bei Brecht schwerer zu entdecken als bei Shakespeare. Anmerkungen über Arbeitslose und
Atombomben werden nicht schon dadurch Kunst, dass es sie gibt. Dramatik überlebt durch ihre Fähigkeit, großes Theater zu stiften und also große Aufgaben für große Schauspieler. So wird es sein, dass sie Ui und Galilei, Kreidekreis und Courage und Sezuan noch spielen werden, wenn Brecht ihnen so fern ist wie uns Goethe.

Was aber die Liebe ist und die Trauer, die Ungeduld und die Sehnsucht, wird Menschen nie fern sein und also Brechts Gedichte nicht. Vielleicht gewinnen die Besten unter ihnen ihren Rang, weil sich die solitäre Eigenart ihres Dichters wohl nirgendwo so zu bekunden vermag wie im Gedicht. Wer hat je das Denken selbst so romantisiert? Wo ist das Denken so liebevoll, die Liebe so bedenkend? Wo ist ein Vers so vom kühlen Denken her entworfen worden? Und wo ein Leben.

Wenn der junge Brecht den Baal entwirft, dann entwirft er zugleich eine Vision von sich selbst, das Dichter-Tier, das Frauen frisst, das Kraftgenie, das die Welt zu Paaren treibt mit seinem Vers. Nur, dass er im Umgang mit sich selbst ein wenig bedachtsamer ist.

Der arme Poet ist ihm ein untaugliches Muster. Er tauscht ein Werbe-Gedicht gegen ein Auto und, als er damit verunglückt, einen werbenden Zeitschriftenbericht über den Unfall des Dichters Bert Brecht gegen ein weiteres. Er lehnt den unnützen Nationalpreis II. Klasse ab und er nimmt den nützlichen Stalin-Preis entgegen, das ist Geld in der Schweiz und Schutz in der DDR. Er nimmt in Berlin das Theater und in Wien den Paß. Und er, dem die frühe DDR mit tiefem Misstrauen und kleinbürgerlichem Kunstverstand begegnete, lebte konsequent seinen Begriff von Kollektiv und Werkstatt unter der Voraussetzung, dass er der Zweck dieses Kollektives sei. John Fuegi, der die Werkstatt Brecht & Co. kritisch untersuchte, war penetrant als Kommissar der Heiligen Moralität, sein Impuls indessen ist nicht zu bezweifeln. Natürlich hat der Kerl Elisabeth Hauptmann, Ruth Berlau, Margarete Steffin & Co. hemmungslos ausgebeutet. Ohne diese Frauen gäbe es womöglich manches von Brecht nicht zu lesen aber ohne Brecht gäbe es mit Sicherheit nichts zu berichten von den Frauen. Diese Begegnungen waren zweckmäßig und lustbringend für alle, schmerzend allerdings nur für die Frauen.

Bertolt Brecht war ein Mann, der sich kühl an den Maßgaben der Zweckmäßigkeit orientierte, sofern er der Zweck war oder der Marxismus: Des Intellektuellen Brecht konstituierende politische Bekenntnis zu bezweifeln, ist nirgendwo ein seriöser Grund zu sehen. Das machte ihn am 17. Juni 1953 zum Menetekel des Intellektuellen, der sich existenziell einer marxistischen Partei verband. Denn natürlich hatte er eine Meinung über die Panzer, aber sie zu äußern war nicht zweckmäßig. Sein Land konnte den Mann und sein Theater, das den Zweifel lobte und die Einsicht genoss, dulden und bezahlen, wirklich lieben konnte es ihn nicht, so lang er lebte. So blieb er ein Fremder, wo er zu Hause war. Aber vielleicht war ihm Heimat auch nur ein Wort, das die Zweckmäßigkeit eines Wohnsitzes beschrieb.

Es liegt eine Ironie darin, dass das Leben dieses großen Mannes nun dem Publikum auf der Welt-Bühne zum Exempel dient, wie recht er hatte mit der Haltung, dass an allem sehr zu zweifeln sei. Unklar wird bleiben, ob er eine Freude gehabt hätte, an der konsequenten Bestätigung dieses Satzes. Womöglich schon, denn so wäre er, wie seine Marketenderin, wieder im Geschäft.


Text: Henryk Goldberg

Text erschienen in Thüringer Allgemeine, August 2005, anlässlich des 50. Todestages (B. B. starb am 14.08.1956)