Der Patriarch
Das Phänomen Marcel Reich-Ranicki wird heute 90 Jahre alt
Der Kritiker, der Bücher schreibt, gilt als mit den höheren Weihen des Berufes versehen. Dem Kritiker, über den Bücher geschrieben werden, bleibt dann nur die Wahrnehmung des ihm aufgetragenen Pontifikates: eine Enzyklika um die andere. Und man wird von einem Mann, den der weiße Rauch der Medien längst als den Papst verkündete, nicht erwarten dürfen, dass er sich hielte wie ein gewöhnliches Glied der Gemeinde.
Marcel Reich-Ranicki, der heute 90 Jahre wird, ist vergönnt, was sonst kaum einem Kritiker vergönnt wird. Er bewegt sich nicht am Rande des von ihm reflektierten Betriebes, als dessen Parasit ein Kritiker im Grunde existiert, er ist ein Teil des Betriebes selbst. Kein anderer deutscher Kritiker nach dem Krieg hat in solchem Maße gewonnen, wovon ein Kritiker doch träumt: Einfluss und Macht. Der Mann verdankt diese singuläre Stellung im Literaturbetrieb wohl einer Charaktereigenschaft, die sich im »Literarischen Quartett« als Entertainment äußert, die im Übrigen aber tiefer reicht: Seinem unbeirrbaren Starrsinn.
Es gibt deutsche Literaturkritiker, die schreiben brillanter und denken analytischer. Ein Aufsatz von, zum Beispiel, Fritz Raddatz, ist allemal erhellender als eine Arbeit Reich-Ranickis. Er ist als Schreiber nicht brillant, es gibt kaum einen Satz von ihm, den nicht mindestens ein Dutzend Kritiker eleganter zu formulieren wüssten und genau das ist es: Reich-Ranicki ist kein Virtuose der Sprache und der gedanklichen Volten, er ist der Virtuose der Vereinfachung. »Eure Rede aber sei ja, ja, nein, nein«. Daran hält er sich und das Publikum dankt es ihm. Er sucht den direkten, den kürzesten Weg zu seinem Publikum. Und er ist der einzige deutsche Kritiker von Belang, der das Wort »Urteil« gänzlich unbefangen verwendet. Und wenige, die mit Literatur befasst sind, vermögen so deutlich zu machen, dass diese Tätigkeit mit Liebe zu tun hat und mit Leidenschaft.
Der 90jährige hat die Impulse seines Wirkens zu einer Zeit empfangen, in den fünfziger Jahre, da der pädagogische, der belehrende, der rubrizierende Charakter von Kritik noch nicht als oboslet galt, da ein Urteil, auf das es letzten Endes hinaus läuft, auch noch so genannt wurde. So ist die zeitgenössische Scheu vor jeglicher normativen Einordnung deren Kehrseite die Beliebigkeit ist , an ihm vorüber gegangen, so handhabt er stolz seine normative Ästhetik wie einst Georg Lucacs die seine, allerdings ohne die philosophische Dimension, über die jener gebot. Reich-Ranicki besetzt im Literaturbetrieb die Rolle des Patriarchen, des streng, doch gerecht Lob und Tadel verteilenden Vaters, dessen Strenge doch nur ein anderer Ausdruck seiner Liebe ist. Kein anderer Kritiker von Rang würde diese Figur mit seinem Selbstverständnis vereinbar halten und kein anderer hat, aus eben diesem Grunde, so viel Erfolg. Und seine Substanz zeigt sich auch in dem Umstand, dass er in dieser Rolle gelegentlich zur skurrilen, nie aber zur komischen Figur wird.
Als er schon das wohl höchste literarische Amt der Republik hinter sich hatte, das des Literaturchefs der FAZ, da wurde ihm ein anderes, ein noch höheres erfunden, das des Dominators im »Literarischen Quartett«. Und so wie Reich-Ranicki der letzte Kritiker des pädagogischen Zeitalters ist, so wurde er auch zum ersten des Medienzeitalters. Und hier gewann er die Vollendung seines Typus. Denn nirgendwo entfaltet sich so wie im Fernsehen, getragen von seinem Charisma, seine Eigenart so uneingegrenzt, nirgendwo wird diese Haltung so zur Kunstform: Das Argument bin ich.
Sein Buch »Mein Leben« ist ein Bestseller. Gewiss, ohne die Prominenz des Namens hätte er nicht ein Zehntel verkauft, aber der Erfolg ist verdient. Eine schöne Anekdotensammlung zum »Who is who?« der deutschen Literatur und eine sachlich-berührende Schilderung des unfasslichen Alltags im Ghetto. Dieses Buch verweist auf das eigentliche Phänomen des Marcel Reich-Ranicki: Ein polnischer Jude, dem Holocaust entkommen nur durch glückliche Umstände, ist, durch Leistung und Leidenschaft, der prominenteste Anwalt der deutschen Sprache.
Wer will, mag darin eine Art von höherem Sinn erblicken.
Autor: Henryk Goldberg
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