Der Mann mit den Posaunenbacken
Alfred Hitchcock (1899-1980), Kino-Genie und Pop-Star in einem, viel gefeiert derzeit und glücklicherweise in allen Medien zugänglich wie nie zuvor, ist darzustellen, zu vermessen und zu kommentieren auf sehr verschiedene Weise, Bausteine des »System Hitch cock«:
Hitchcock, der dicke Junge, dem die Angst und nicht viel anderes als Angst in die katholische Außenseiter-Jugend schien, und der Zeit seines Lebens Bilder der Angst, Bilder der Schuld, der Sünde und der Rache, Bilder des Begehrens und der indirekten Erfüllung zu produzieren wusste, sich ihnen immer wieder näherte und sich immer wieder von ihnen distanzierte. Und uns dabei eine sichere Art bot, uns mit allerlei Schattenseiten unseres sozialen und privaten Lebens zu arrangieren. Der Schöpfer einer magischen Autobiographie, durch die hindurch wir in unsere nicht mehr gar so wohlgehüteten Geheimnisse gelangen können. Oh ja, wir haben oft und gern ein wenig zur »dunklen Seite des Genies« gesehen; wir sahen nur allzu gern die seelischen Defekte des Autors hinter den Bildern, anstelle unserer eigenen vor ihnen.
Hitchcock, der Selbstvermarkter, der Zurschausteller eines ebenso markanten wie komischen Männerkörpers, der wie geschaffen war für die Karikatur. Hitchcock war der einzige Regisseur, der selbst als Ikone fungierte – neben James Dean und Marilyn Monroe, die andere Seite des Nachkriegs-Körperbildes. Jener Star, der in seinen Filmen einen prägnanten Kurzauftritt hatte, den die Kenner seines Werkes bald als mehr als nur einen ikonographischen Running Gag, als eine geheime Botschaft, einen Kommentar zum eigenen Film zu deuten vermochten. Als eine Anwesenheit des Künstlers in seinem Werk. Aber auch einer, der sein Bild als »Markenzeichen« auf den Markt der Träume warf, der Fernsehserien, Buch-Reihen und Magazine verkaufte. (Mein Lieblingsbild: Alfred Hitchcock am Schlagzeug mit Beatles-Perrücke.) Er tritt in seinen Filmen auf, wie eine Signatur, und sagt zugleich: Das ist nur ein Film. Und: Das ist mein Film. Und schließlich: Es ist ein Film über das Sehen und das Gesehenwerden. Und über die Täuschung: In Topas (1996) wird er im Rollstuhl ins Bild gefahren. Der Regisseur, gehemmt und gelähmt, wie viele seiner Figuren vorher? Ja, aber bevor es weitergeht, sehen wir, wie Alfred Hitchcock einfach aufsteht und geht.
Hitchcock, der große Ausprobierer, der populärste und teuerste Experimentalfilmer der Kinogeschichte, der so abenteuerliche Ideen verwirklichte wie die Einstellung durch einen gläsernen Fußboden in The Lodger (1927), einen Film in einer einzigen Einstellung zu drehen wie Rope (»Cocktail für eine Leiche«, 1948), aus der Perspektive eines Beobachters, der bewegungsunfähig am Hinterfenster beobachtet wie Rear Window (»Das Fenster zum Hof«, 1954), der die radikale Veränderung der Funktion von Filmmusik betrieb, nicht allein in The Birds (»Die Vögel«, 1963), der mit der Konvention von Identifikation und Erzählung brach, etwa, wenn er in Psycho (1960) die Heldin bereits im ersten Drittel der Handlung sterben läßt und der die Stille (wieder) entdeckte wie in Frenzy (1972). Einige der gewagtesten und reduziertesten Hitchcock-Ideen mussten leider unverfilmt bleiben, zum Beispiel seine Idee, einen ganzen Film in einer Telephonzelle spielen zu lassen. Anders als die meisten »Klassiker« des Erzählkinos hat Hitchcock jede technische Neuerung des Mediums mit Neugier und Begeisterung aufgenommen und sofort damit zu experimentieren begonnen: den Ton, die Farbe, die Breitwand, sogar das 3-D-Verfahren hat er sogleich mit Leben und mit Suspense erfüllt. Und ihm ein Maß gegeben. Jeder Hitchcock-Film ist eine filmkundliche Lektion, aus der man am besten dieses lernt: Hitchcock nachzumachen, geht fast immer schief. Sogar Hitchcock zu parodieren, ist viel schwerer als man meint. Hitchcock fortzusetzen, führt nirgendwo mehr hin. Das beste was zu lernen ist: eigene Wege suchen.
(Was im übrigen auch für die Kritik gilt: Hitchcock als »Maßstab« zu verwenden führt im besten Fall zu Missverständnissen, im schlimmsten zur Besserwisserei im Namen eines »Meisters«, der so tückisch war, jeder seiner Ideen sogleich eine endgültige Gestalt zu geben: das Kapitel »Hitchcock-Remakes« gehört zu den trostlosesten der Filmgeschichte.)
Hitchcock, der Begründer eines eigenen Genres, des Suspense-Thrillers, das er zugleich vollendete (um kaum Raum zu lassen für seine Nachfolger und Imitatoren), jenes einzige Genre, in dem Probleme nicht mythisch überhöht werden, sondern das seine Protagonisten durch die Hölle des Identifikationsverlustes führt. Eine Katharsis ex negativo: der angstlust-besetzte Verlust des Ich, der, im besten Fall, zu einer Wiedergeburt führt. In den düsteren Beispielen wie The Wrong Man (»Der falsche Mann«, 1956) gibt es no way out. Der falsche Verdacht, das falsche Objekt. Der Doppelgänger, das trompe l’oeil. Vollendung und Transgression der Romantik. Aber auch: Suspense ist nicht nur eine Form, Spannung zu erzeugen, etwa dadurch, dass der Zuschauer mehr oder anderes weiß als der Protagonist – und das gilt gemeinerweise nicht nur für die Guten; im Suspense bangen wir auch mit dem Bösen – sondern auch eine Form, den Zuschauer zum Komplizen, zum Mitschuldigen zu machen. Wesen der »Erzählung« ist nicht nur, was es zu sehen gibt, sondern auch das Spiel des Wissens und der Beurteilung. Es gibt bei Hitchcock kaum jene klärenden Bilder, auf die alles hinaus will, die man sich einrahmen zu können meint, um das Wesen eines cinematografischen Geschehens auf einen fotografischen Punkt zu bringen. Vielmehr sind seine stärksten Bilder solche der Zersetzung und des Zweifels. Wir sehen Bildern zu, wie sie durch Bewegung ihre Verläßlichkeit verlieren. Und diese Bewegung ist langsam; selbst Hitchcocks Humor ist häufig ein Ergebnis von Entschleunigung. Vielleicht auch deshalb hat die Action über den Suspense im weiteren Verlauf der Kino-Geschichte wieder gesiegt. Es ist schon komisch, wenn in The Trouble with Harry (»Immer Ärger mit Harry«, 1955) das Auffinden einer Leiche (in einer so wunderschönen herbstlichen Landschaft) nicht etwa zu Hysterie sondern zu pragmatischer Bedächtigkeit führt. Unerreicht ist die Wirkung, daß der Tod eines Mannes, dem niemand nachzutrauern scheint, bis in die einzelnen Einstellungen hinein auf eine kiebige Schläfrigkeit trifft.
Der Suspense-Thriller basiert auf einem Einverständnis zwischen Filmemacher und Zuschauer, das kulturhistorisch und wahrnehmungspsychologisch nicht beliebig herzustellen ist. Hitchcock-Filme sind längst überzeitliche Lektionen geworden, produziert konnten sie nur in ihrer Zeit werden. Das klingt wie eine Binsenwahrheit. Zweites Nachdenken: Jeder Hitchcock-Film ist nicht die Wiederkehr des Vertrauten (das wird es erst in unseren Untersuchungen über Motive und Methoden, die, wenn sie ehrlich sind, sich auch als Re-Konstruktion zu erkennen geben), sondern ein Experiment. Hitchcock musste immer sein Publikum dazu verführen, seine Neugier zu teilen. (Seine Ikone mochte das erträglich und behaglich machen, zu der mir nur eine Parallele einfällt: die Ikone von Albert Einstein, die die Ungeheuerlichkeit der Auflösung eines ganzen Weltbildes überdeckte. Und wie Hitchcock war Einstein so etwas wie sein eigener Hofnarr, der Künstler, dem es gelang, einer Wahrnehmungsrevolution ein menschliches Gesicht zu geben.)
Hitchcock, der Manipulator der Wahrnehmung, der nach eigenen Worten imstande war, mit den Gefühlen seiner Zuschauer zu spielen wie auf einer Orgel. Aber auch einer, der, wie Eric Satie in der Musik, seine Kompositionsprinzipien offen legt. Der immer auch demontiert, was er errichtet. In Spellbound (»Ich kämpfe um dich«, 1945), der als »erster Film der Psychoanalyse« angepriesen wurde, imitiert er das Vorgehen der Wissenschaft von der Seele: Alles muß durch die Erinnerung geklärt werden, muss rationale Erzählung werden. Aber als die Heldin an ihrer Liebe zu zerbrechen droht, haben die Seelenärzte nur einen Trost: »Sie werden vergessen«. Hitchcock spielt nicht nur, er zerlegt seine Instrumente: Was wir glauben, sagen so viele seiner Filme, ist nicht, was der Film uns glauben macht, was wir glauben, ist was wir glauben wollen.
Hitchcock, der hinterlistigste aller Tabu-Brecher und subversive Künstler im Zeitalter der Angst. Den »einzigen poète maudit, der einen unglaublichen kommerziellen Erfolg erlebte«, hat ihn Jean-Luc Godard genannt. Der einzige Regisseur, der so hemmungslos von Voyeurismus, Nekrophilie, Inzest und Wahnsinn sprechen konnte, ohne der inneren und äußeren Zensur anheimzufallen. Hitchcocks Filme ziehen die geheiligten Werte, wenn nicht in den Schmutz, so doch auf ein angemessenes Niveau herab. Von zwei oder drei Ausnahmen abgesehen, spielt die Polizei eine jämmerliche Rolle, der Staat, die Religion, die Familie, das Gericht – farcenhafte Installationen, unfähig dem größten Schrecken etwas entgegenzusetzen, der Entwürdigung des Menschen.
Hitchcock, ein Satiriker von Swiftschen Maßen, der, nur zum Beispiel, eine Schreckensvision wie Psycho (1960) als Komödie verstand, der auf der Leinwand seine sadistischen und obszönen practical jokes sublimierte, aus dem verdrehten und verfehlten Begehren, der Traumschöpfung der »Hitchcockian Woman«, eine Kunst machte und dabei die bürgerliche Seele der sexuellen Ökonomie selber treffen mußte.
Hitchcock, der Dokumentarist des bürgerlichen Paares, dessen Stadien er zwischen Bildung und Zerfall, bis zur Zersetzung der Person schließlich, verfolgte. Der erzählte, wie sich Menschen finden in der Gefahr, und wie sie sich in Angst und Misstrauen wieder verlieren. Es sind Melodramen, die Hitchcock nach eigenem Bekunden gedreht hat, oder auf den Kopf gestellte Melodramen, das heißt, es sind Filme, die in einem moralischen Kosmos spielen, in dem die Transzendenz, das Göttliche ebenso wie die Gewissheit des menschlichen Fortschritts, nur noch als Schatten spuken, und in dem die Menschen nicht nur um die Scheidung des Guten vom Bösen, sondern auch um Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung ringen.
Neben vielem anderen handeln Hitchcocks Filme vom säkularisierten Zeichen. Der McGuffin, das leere Zeichen, das die Handlung in Gang setzt und für sich nichts bedeutet, ist nur die dramaturgisch augenscheinlichste Form dieses säkularisierten Zeichens. Das Zeichen wird bei Hitchcock Film: In The Ring (»Der Weltmeister«, 1927) geht es um den Boxring, die Fessel, den Armreif und den Ehering; Vertigo (»Aus dem Reich der Toten«, 1958) bewegt sich in der Form der Spirale in das Innere einer Psychose; in Spellbound wird die Parallele zum Zeichen im Film und zum Konstruktionsprinzip: Zeichenfilme. Liebesfilme.
Die Liebe liegt einzig und allein in der eigenen Verantwortung der Menschen. Deshalb haben Hitchcocks Paare, die sich gegenseitig verdächtigen und betrügen und nach dem Leben trachten, keine Ausrede. Wenn er in seinen Komödien wie Rich and Strange (»Endlich sind wir reich«, 1932) oder Mr. and Mrs. Smith (1941) ein Ehepaar durch eine Krise und dann wieder zueinander führt, hat das einen bitteren Geschmack, den man ihm nicht verzeiht. Dann doch lieber Mord.
Hitchcock, der Regisseur, der mit den Mitteln der populären Kultur die Moderne in das Kino einführte, eine Emanzipation des ästhetischen Materials von den Pflichten der Abbildung. Close the eyes and visualize überschrieb er einen Artikel zu seiner Arbeit: die Augen schließen, um sich ein Bild zu machen. Sich entfernen von den theaterhaften und literarischen Vorgaben. Das Alltagsauge täuschen, um anders zu sehen. Hitch, so sagte seine Frau Alma einmal, hätte gern andere, viel radikalere, abstraktere Filme gemacht. Aber er liebte es, geliebt zu werden, und er war, wie gesagt, höchst geschäftstüchtig. Deshalb blieb ihm nur, anstatt »andere« Filme zu machen, Filme »anders« zu machen. Hitchcock selbst hat gegenüber Francois Truffaut gesagt, jemand wie er müsse sich mit dem Publikum verbinden, weil ihn die Kritik nicht zu verstehen imstande sei. Seine Filme geben sehr direkt den Grundwiderspruch des Kinos wieder, zugleich Kunstform und industrielle Massenware zu sein. Sie waren immer auch Suche nach einem Ausweg. Die Kritik empfand ihn lange Zeit als einen großartigen Regisseur unbedeutender Film; Andre Bazin verglich ihn mit einem Topf, der leer vor sich hin kocht. Wahrscheinlich musste in der Tat erst einiges in der Wissenschaft vom Denken und Fühlen, vom Miteinanderleben und Einsamsein, geschehen, damit man begriff, wovon Hitchcocks Filme eigentlich handeln. Unter vielem anderen übrigens auch davon, dass die Grenzen meiner Klasse die Grenzen meiner Wahrnehmung sind.
Hitchcock, der Regisseur, der immer von einem Geschehen sprach und zugleich davon, wie es Bild wird, der Regisseur der Spiegelungen, der in beinahe jedem seiner Filme auch über das Kino selbst nachdachte. Immer zeigt er nicht nur, sondern führt auch etwas vor. Populär ließ sich das so ausdrücken: Hitchcock hat uns stets die Tricks des Kinos vorgeführt und uns zugleich gezeigt, dass und wie wir trotzdem darauf hereinfallen.
Hitchcock, dessen Filme ein bedeutendes Kapitel in der Geschichte der Konstruktion eines neuen filmischen Subjekts sind. Es bildet sich weder auf der Leinwand noch im Kopf des Zuschauers, vielmehr auf halbem Weg zwischen beidem. Der Zuschauer, in der Lage eines »ohnmächtigen Gottes«, der weiß, ohne handeln zu können, der sieht, ohne urteilen zu können, der auf das Schicksal vertrauen muß, wenn er Gerechtigkeit erhofft. Jenes Schicksal, das sich melodramatisch zeigt, zum Beispiel dadurch, daß der Schuldige den Tod sucht, wird erlöst nicht durch die Wiederherstellung der Ordnungen (um die rhetorischen Enden von Hitchcocks Filmen ist häufig gestritten worden, oft mußte er ein scheinbar optimistischeres Ende drehen als er es in den Drehbuchentwürfen vorgesehen hatte, nur um dieses dann umso willkürlicher erscheinen zu lassen: dass Cary Grant in Suspicion, »Verdacht«, 1941, dann doch kein Mörder ist, macht das Mißtrauen und die Gefahr nicht weniger real, vielleicht im Gegenteil), sondern durch die Identifizierung seines Blicks mit dem inneren Geschehen. Wir mögen es als Erlösung empfinden, daß wir am Ende nicht mehr anderes und mehr wissen als die Helden. Bis zur nächsten Umdrehung der Spirale. Aber mit uns ist nicht nur gespielt worden, etwas von uns ist auch freigesetzt. In Hitchcocks Filmen wird der Zuschauer als Gegenüber und Mitspieler angenommen. Hitchcocks Filme strahlen eine merkwürdige Behaglichkeit aus, und trotzdem ist man nie in ihnen zuhause.
In alledem ist »Hitchcock« als Super-System hinlänglich und tiefenscharf beschrieben. Es dürfte ausgesprochen schwer fallen, einen Gedanken zu Alfred Hitchcock zu fassen, den noch niemand gefasst hätte, und das obwohl jeder Hitchcockomane nur zu genau weiß, wie sehr sich seine Filme verändern von einem Ansehen zum anderen, welch »offene Kunstwerke« sie sind (verborgen hinter dem so erratischen Markenzeichen des Mannes mit den Posaunenbacken). Und trotzdem, oder gerade deswegen, will es niemandem so recht gelingen, alle diese Elemente in einem System wieder zusammenzubringen.
Ein System, nicht ohne Widersprüche und Lücken, aber brauchbar, das von der magischen Biografie eines Künstlers über die Beschreibung einer ästhetischen Methode hinführt zur Geschichte der Wahrnehmung. So bleibt uns also doch noch etwas zu tun. Für die nächsten hundert Jahre mit Filmen von Alfred Hitchcock.
Georg Seeßlen, Freitag 19.08.1999
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