Zum 100. Geburtstag von Roberto Rossellini
Jeder weiß, wer Roberto Rossellini war: einer der Begründer des italienischen Neorealismus, so steht es ja in den Büchern. Gesehen hat man in Deutschland indes nie viel von ihm. Rom, offene Stadt aus den Jahren 1944/45, notwendig auch für das Verständnis des Neorealismus, vom Bild des faschistischen Terrors ganz zu schweigen, kam in der BRD erst im Jahr 1960 in die Kinos, und da musste man einen von der FSK verlangten Vorspruch über sich ergehen lassen, in dem es hieß, der Film richte sich keineswegs gegen das deutsche Volk und klage nicht den deutschen Soldaten an. Aus Paisà wurde vollständig die Episode geschnitten, in der deutsche Soldaten gefangene Partisanen erschießen, und der in Berlin gedrehte Deutschland im Jahre Null blieb lange Zeit nur wenigen Zuschauern jenseits des allgemeinen Kinobetriebs zugänglich.
So asynchron, so ärgerlich ging es weiter mit der Rossellini-Rezeption in der Bundesrepublik. Die Filme kamen zu spät, verstümmelt oder überhaupt nicht. Sie waren so radikal von ihrer Entstehung abgekoppelt, dass nicht bloß die Werkgeschichte verschwand. Sie haben, kurzum, etwas Gespenstisches an sich. Wie verpasste Lektionen des Filmemachens und vor allem des Filmesehens. Filme wie Franziskus, der Gaukler Gottes oder Es war Nacht in Rom waren in den lange vergessenen Tagen guten deutschen Fernsehens in den Siebzigern wenigstens noch nachts anzutreffen. Rossellinis TV-Arbeiten wurden hier und da in jenen Dritten Fernsehprogrammen gesendet, in denen wir heute die fünfte Tatort- Wiederholung und regionale Schunkelmusik goutieren. Und auch nun, in der Zeit der DVD-Booms, sind Rossellinis Filme so schwer zu finden, wie es leicht ist, noch die letzte Spezial-Edition beliebiger Kannibalenfilme zu bekommen. Aber die Situation ist auch in Italien nicht viel besser; und Rossellini selbst hat nie sonderlich viel für die Pflege seines Werkes getan. Auch wenn Produzenten und Verleiher seine Filme zerstörten – er selbst hat sie doch auch immer losgelassen, nie Material gehortet, wenig Begleitmaterial publiziert. So ist von dem Film Giovanna d’Arco al Rogo (1954) das Negativ verloren, einige seiner Dokumentarfilme wie Rice University (1971) sind nie öffentlich aufgeführt worden. Es war für ihn immer der Weg, der zählte, nie hat er seine Filme später noch einmal angesehen, und von einigen wusste er selbst nicht, welches Schicksal sie erfahren hatten. Auch das ist eine Botschaft der Rossellini-Filme: Sie stehen in der Zeit, als würden sie sich dem Kanon und dem Museum ebenso verweigern wie jeglicher Vermarktung (und anders als Jean-Luc Godard, mit dem zusammen er das Drehbuch von Die Karabinieri schrieb, hatte Rosselini nicht die Begabung, den gefräßigen Medien wenigstens den philosophischen Clown zu spielen).
Die Filme von Roberto Rossellini machen es einem ja auch nicht unbedingt leicht. Es sind Reisen mit einem insbesondere für den Zuschauer offenen Ausgang. Entweder man sieht Rossellinis Filme wie alle anderen Filme, dann ist man enttäuscht, weil sie nicht so aufgehen, nicht Aussagen anhäufen. Weil man nie weiß, wohin die Kamera gehen wird, wenn sie Anna Magnani durch eine römische Mietskaserne folgt oder einem kleinen Jungen durch die Trümmerlandschaften des Nachkriegs-Berlins. Gut, man kann mittendrin »die Optik wechseln«, wie Eric Rohmer es beschrieben hat, aber dann steht man in Gefahr, all die lieb gewordenen Gewissheiten zu verlieren, die man zu Filmen hat. Bei Rossellini nämlich geschieht es (und die DVD ist da das ideale Medium persönlicher Überprüfung), dass man einen Film heute so und morgen ganz anders sieht. Das ist schon merkwürdig. Man könnte auch ganz schlicht von Freiheit sprechen.
Rossellini ist ein Prophet der Moderne auf der Leinwand, weil es keine eindeutige Beziehung zwischen dem Menschen und der Welt gibt. Man reist in diesen Filmen durch eine Welt, die einem immer von Station zu Station fremder wird, und am Ende hat man die Welt (mit den Protagonisten) so gründlich verloren, dass nur ein Augenblick der größten Gnade (oder Erkenntnis) die Lösung sein kann. Die Welt in ihrer Fremdheit annehmen, das wäre das Evangelium nach Rossellini.
Fremd fühlt sich Ingrid Bergmans Heldin auf der abweisenden Insel in Stromboli oder die Heldin von Europa 51 in der Fabrik, zu der sie nicht gehört. Fremd fühlt sich das Kind, das in Deutschland im Jahre Null in den vom Krieg zerstörten Städten keine Welt als Wohnung erkennen kann. Man könnte diese Filme, insbesondere die mit seiner Geliebten und späteren Ehefrau Ingrid Bergman (die immer als »quälend« empfunden und gleichwohl als biografisch-melodramatisch verstanden wurden), als eine kalte philosophische Konstruktion der Moderne sehen. Aber Rossellinis Filme sind für Menschen, die wissen wollen, warum es diese Fremdheit gibt. Selbst seine Heiligen – Franziskus, Johanna, Christus – sind nicht Wesen, die diesen Riss heilen wollen, sondern die ihn leben und darstellen, bis zum Exzess. Aber es sind durchaus Menschen, die Beispiel sein können, indem sie zur Liebe fähig sind, wie sogar sein Garibaldi in Viva l’Italia. Er ist eben nicht der strategische Held, sondern einer, der sich besorgt, auch um die Wunden des »Feindes«, und der sich nicht scheut, ans Essen zu denken, vor der Schlacht: Roberto Rossellini sucht in der fremd gewordenen Welt den Menschen. Es gibt keine Spur von Verachtung, von Zynismus, von Verzagtheit in diesen Filmen. Es sei eine Ästhetik, die sich aus dem Willen zur Nächstenliebe entwickele, sagt Rossellini. Sie beruht darauf, dass die Welt als Tatsache gesehen wird und nicht als Material. Und es geht nicht darum, dass der Zuschauer dem Regisseur vertraut bei dem, was er zeigt, sondern darum, dass der Regisseur dem Zuschauer vertraut bei dem, was er sieht. Es geht um Freiheit. Deshalb ist die Unsichtbarkeit der Filme von Roberto Rossellini, hierzulande und anderswo, kein Wunder.
Autor: Georg Seesslen
Text veröffentlicht in Die Zeit 27.04.2006 Nr.18
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