58. BERLINALE: Anmerkungen zu den Filmen von Luis Buñuel, dem die Retrospektive der Filmfestspiele gewidmet ist
Fünf Jahrzehnte lang, etwa zwischen 1928 und 1978, hat der europäische Film, in Teilen wenigstens, nach Wegen gesucht, einen inneren und äußeren Zusammenhang mit den großen gedanklichen und ästhetischen Projekten der Moderne zu finden. Die waren dem Medium wie vernagelt, nicht allein wegen der Widersprüche zwischen Kunst und Kommerz oder denen zwischen Autorschaft und Industrie,
kollektivem und individuellem Narrativ, in denen der Film sich nur entwickeln und derenthalben er zugleich zur Fortsetzung und zur Negation der alten bürgerlichen Künste werden konnte. Dabei schien doch alles so leicht, denn schließlich war das Kino das technisch und organisatorisch modernste Medium (was besonders Geschäftsleute und Diktatoren reizte). Und in seinen Anfängen brachte es doch Revolutionen, Manifeste und Theorien genug hervor: Griffith, Eisenstein, Pudovkin! Aber schon gegen Ende der zwanziger Jahre und erst recht nach dem Übergang zum Tonfilm schien der Elan der Moderne zu erlahmen. Hier wie dort begann das Kino offenbar mit einer Rückwärtserzählung, zurück nicht nur zum Melodrama und zum Vaudeville, zurück auch zur Legende und zum Mythos, zurück in die Genremalerei, zurück in massengefertigtes Kunsthandwerk, zurück zum Text und zur Konvention. Und nicht zuletzt: von der ersten Weltkunst zurück zu den nationalen Erzählungen (wenn auch für den Weltmarkt).
Nie hatte dieses Medium die Dynamik, so rasch einen Ismus auf den anderen folgen zu lassen, wie es in der bildenden Kunst geschah (bis jeder Künstler sein eigener Ismus wurde). Nie konnte das Kino sich so radikal auf die eigenen Mittel werfen, wie es die Literatur tat, die sich gar weigerte, weiter zu erzählen. Und noch der avantgardistischste Film kann es sich nicht leisten, so sehr mit dem Rücken zum Publikum zu spielen wie Miles Davis im Modern Jazz: als politische Geste einerseits und andrerseits, um der Musik einen Raum zu schaffen, der unabhängig vom Dialog und seinen Korruptionen ist. Das Lichtspiel leidet darunter, dass es verschwindet, wenn es versucht, dem Publikum den Rücken zuzukehren.
Freilich haben wir unsere Meister des modernen Kinos. Federico Fellini, der den Traum zum Inhalt seiner Filme machte, und sein Widerpart, Ingmar Bergman, der dem Leitfaden des Begehrens den Leitfaden der Angst entgegensetzte. Michelangelo Antonioni, der auf eine schmerzhafte Weise den Existentialismus in Bilder übersetzte, und mehr noch in Leerstellen, Nicht-Bilder. Das cinema di denuncia, das aus dem Niedergang des Neorealismus seine aufklärerische Position bestimmte. Immer wieder neue Formen, ganz nahe an die Realität zu kommen, und immer wieder neue Formen, sie aus der Distanz zu erkennen. Godards Vorschlag, Filme politisch zu machen. Und doch: Jede Methode wird viel zu schnell zum Stil, und jeder Stil zu schnell zur Pose; vielleicht ist es nicht nur eine allgemeine Rückwärtswendung des Kinos (die Sehnsucht genau mit den modernsten Mitteln in die vormodernsten Traumreiche zurückzukehren, die noch heute das Blockbuster- und Genrekino bestimmt, digital oder nicht), sondern auch der rasche Verbrauch der kinematografischen Ideen, was das Kino und die Moderne so schwer zueinander finden lässt. So ist der Autor auch hier zugleich altmodisch und letzte Chance der Moderne. Luis Buñuel zum Beispiel.
Luis Buñuel versuchte es mit dem Surrealismus. Was natürlich vor allem damit zusammenhängt, dass der Surrealismus ihm selber die individuelle Befreiung gebracht hatte. In Aragonien, einer fruchtbaren, aber trockenen Gegend im Nordosten Spaniens, wo zwei Jahre vergehen können, ohne dass man am Himmel eine einzige Wolke sieht, wird Luis Buñuel am 22. Februar 1900 geboren. Knapp 5.000 Einwohner hat das Dorf, zwei Kirchen, sieben Pfarrer. Sein Vater ist als Kaufmann auf Kuba reich geworden, in Saragossa, der Hauptstadt Aragoniens, wohin man bald zieht, zählt die Familie zu den wohlhabendsten. Acht Jahre lang besucht Luis eine Jesuitenschule – strenge Disziplin, striktes Schweigen, ununterbrochene Überwachung -, später studiert er in Madrid Agronomie, Insektenkunde, schließlich Literatur und Philosophie. Mitte der zwanziger Jahre entdeckt er in Paris seine Begeisterung für das Kino, sammelt Erfahrungen als Assistent des Regisseurs Jean Epstein. Und er entdeckt den Surrealismus. Nicht nur als aufregende und provokante Kunstrichtung, sondern vor allem als Mittel einer Selbstschöpfung: „Ohne Frage haben die religiöse Erziehung und der Surrealismus ihre Merkmale in meinem ganzen Leben hinterlassen. Durch den Surrealismus bin ich darauf gekommen, dass das Leben einen ethischen Sinn hat, dem der Mensch sich nicht verschließen darf. Und durch den Surrealismus habe ich entdeckt, dass der Mensch nicht frei ist.“ An diese Worte muss man denken, wenn man verstehen will, dass Buñuel den Surrealismus nicht als Spiel, Provokation und Methode benutzt, sondern als ein politisches und philosophisches Programm.
Luis Buñuel und der Maler Salvador Dali, befreundet, seit sie gemeinsam in Madrid studierten, pflegten sich, wie es unter den Surrealisten üblich war, gegenseitig ihre Träume zu erzählen. Schließlich schlug Dali vor, daraus einen Film zu machen, und es entstand Un chien andalou (1929), ein Film, in dem in der Tat ungeheure Dinge vorkommen, allerdings kein andalusischer Hund. Die „einfache Regel“, nach der das Drehbuch entstand: „Keine Idee, kein Bild zuzulassen, zu dem es eine rationale, psychologische oder kulturelle Erklärung gäbe, die Tore des Irrationalen weit zu öffnen; nur Bilder zuzulassen, die sich aufdrängten, ohne in Erfahrung bringen zu wollen, warum.“ Kurzum: eine ziemlich radikale Form der cineastischen écriture automatique. Die Pariser Uraufführung des Films, organisiert von Man Ray und Luis Aragon, wurde ein prächtiger Skandal, aber auch ein großer Erfolg.
Un chien andalou war nicht ein surrealistischer Film, sondern der surrealistische Film, und mit der Einstellung der Rasierklinge, die durch das Auge einer Frau fährt, enthält er auch das radikalste Anti-Kinobild. Es ist vorweggeträumt das letzte Bild aller Kinematografie (und vielleicht muss schon von daher das Kino im Allgemeinen, aber auch Buñuel selber rückwärts erzählen). Schon da war klar, dass sich ein solches Unternehmen weder fortsetzen noch wiederholen ließ. Während der Vorbereitungen zu L´âge d´or (1930), der schon wesentlich mehr Struktur, und mit seinen heftigen Bildern von Skorpionen, Bischöfen, Banditen und Orgien gar plot aufweist, dessen Provokationen aber nicht mehr gar so irrational und automatisch daherkommen, zerstritten sich Buñuel und Dali heillos.
Mit der Kamera tief ins Unbewusste zu dringen, dorthin, wo sich Begehren und Religion, Liebe, Tod und Teufel treffen, war für Buñuel immer nur der eine Teil seiner Arbeit. Der andere bestand darin, auch was die äußere Wirklichkeit, was Macht und Ausbeutung in der Gesellschaft anbelangte, genau hinzusehen. Las Hurdes war dann eine große Überraschung. Ein Regisseur, der zuvor seine höchst subjektiven, erotischen und aggressiven Träume ohne Rücksicht auf Dramaturgie und Realität auf die Leinwand gebracht hatte, hielt die Kamera nun unbarmherzig genau auf das wirkliche Elend der Menschen im „Land ohne Brot“: Las Hurdes, eine der vergessenen Regionen Spaniens – Menschen in fensterlosen Steinbaracken, Inzucht, Zwergenwuchs, Armut, Hunger. Ein dokumentarischer Filmessay, gedreht 1932, bald nach der Errichtung der Spanischen Republik. Nur durch den scheinbar kalten Kommentar und, später, durch die sanfte Musik von Brahms gab es so etwas wie eine Verfremdung. Vom reinen Surrealismus der Gruppe von Andé Breton und Max Ernst war das schon weit entfernt. Und dann vergingen 14 Jahre, bis Buñuel wieder einen Film drehte.
Blieben Buñuels Filme „surrealistisch“, als er im mexikanischen Exil in einer mehr oder weniger funktionierenden Industrie arbeitete? Jedenfalls erlernte er noch einmal das Handwerk, definierte sich als Filmemacher neu, nicht nur als einen, der subversive Filme macht, sondern der auch auf subversive Art Filme macht. Der Film als Instrument der Poesie, wie er 1958 in einem Text in der mexikanischen Zeitschrift Universidad schrieb, das bedeutet „Befreiung, Subversion der Realität, Schwelle zur wunderbaren Welt des Unterbewussten, Nichtübereinstimmung mit der engstirnigen Gesellschaft, die uns umgibt“. Diesem Programm, seiner Vorstellung von Surrealismus, blieb Buñuel weitgehend treu. In den Jahren zwischen 1946 und 1965 hat er in Mexiko 21 Filme gedreht, weit mehr als die Hälfte seines Œuvres. Manche davon sind zu Unrecht vergessen, jedenfalls ist es ein wenig irreführend, nur die vier „Meisterwerke“ gelten zu lassen, Los Olvidados (1950), Das verbrecherische Leben des Archibaldo de la Cruz (1955), Nazarin (1959) und Der Würgeengel (1962). So hat er auch Literatur verfilmt (und es dann natürlich doch nicht getan), bei seinem Robinson Crusoe (1954), in dem man nur noch Spuren des Autors findet (und der Buñuel doch ans Herz gewachsen war); oder seiner Brontë-Variation in Abgründe der Leidenschaft (1953/54), die man zweifellos als eine Art der surrealistischen Übersteigerung eines bürgerlichen Stoffes ansehen kann. Vielleicht führt es zu nichts, in jeder Einstellung und in jeder Szene bei Buñuel das Subversive zu suchen, aber ein zweiter oder dritter Blick bei manchen seiner „konventionellen“ Filme kann nicht schaden.
Was bleibt indes, sind die Filme, in denen Buñuel seine Kamera nicht so sehr auf einen Stoff, sondern nach unten oder nach oben richtet. Wenn er zeigt, wie Macht und Ohnmacht funktionieren, wenn er den Katholizismus und den Surrealismus aufeinander treffen lässt, in endlosen Kreisen und voller Selbstreferenzen und eingestandenen Wiederholungen, und wenn die Ablehnung von Rationalität und Psychologie auf einen Zustand der Herrschaft und der Form trifft, die selber weder Vernunft noch Seele haben. Seine Kamera ist immer da, wo sie nach dem Willen der weltlichen, geistlichen und familiären Macht nicht sein sollte. Es ist indes nicht ausgeschlossen, dass sie dabei nicht mehr als blödsinnige Spiele und leere Rituale sieht.
Belle de Jour (1966) ist zugleich Glücks- und Unglücksfall für den Regisseur und das Publikum. Es ist ein Glücksfall, weil der Film durch seinen Erfolg Buñuel in die Liga der europäischen „Meisterregisseure“ zurück bringt, der immer Produzenten für seine Stoffe findet. Und es ist ein Unglücksfall, weil sein Surrealismus hier als zu elegant und hermetisch missverstanden werden konnte. Selbst die böseren Filme wie Der diskrete Charme der Bourgeoisie (1972) und Das Gespenst der Freiheit (1974) gelten nun schon als Kulturbesitz der Klasse, die er attackiert, Werbefilme der Dekadenz, und Buñuels Surrealismus scheint sich am obskuren Objekt seiner unermüdlichen Neugier zu entleeren. Er teilt das Schicksal der modernen Kunst, Dekoration und Beute zu werden.
Allerdings haben sich die Verhältnisse längst wieder geändert. Der postmoderne Film konnte den surrealistischen Ansatz auf einer neuen Ebene wieder aufnehmen. Während Buñuel noch zwischen Erzählung und Traum wechselt, seine surrealistische Ethik immer wieder neu erobern muss, vielleicht im Glauben, dass die „wunderbare Welt des Unterbewussten“ tatsächlich schon Teil der Befreiung sei (und das surrealistische Kino also deswegen wahrhaft automatisch subversiv), ist man nun auf die andere Seite des Traums gelangt. In ein neues Gefängnis. Die Macht reicht tiefer, die Befreiung ist komplizierter, und Buñuels Erkenntnis hat dreißig Jahre nach seinem letzten Film mehr Gültigkeit denn je: „Keine der traditionellen Künste weist wie der Film ein so starkes Missverhältnis zwischen den Möglichkeiten, die sie in sich birgt, und ihrer Realisierung auf“. Das Kino hat immerhin erkannt, dass es auf neue Weise rückwärts erzählen muss, um vorwärts zu kommen.
Es muss, unter anderem, diesen verdammten andalusischen Hund wiederfinden.
Autor: Georg Seeßlen
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