Ein Schauspieler für die Widerspenstigen
Der 33-jährige Edward Norton hat sich mit Rollen in sperrigen Filmen wie Larry Flynt, American History X und vor allem Fight Club unter Hollywoods gefragteste Stars geschmuggelt. Der Schauspieler, der sich selbst bescheiden als Protagonisten und weniger als Helden eines Films betrachtet, hat allerdings etwas von einem Chamäleon: Wenn es jemanden gibt, der Robert De Niro beerben könnte, dann ist es Norton. Jetzt läuft bei uns sein neuer Film an, 25 Stunden von Spike Lee. Alle großen Dinge waren schon gelaufen. Alle möglichen Musik- und Lebensstile waren schon ausprobiert, alle Drogen sowieso.
Identität und Authentizität waren Dinge, über die man sich lange unterhalten konnte, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Man sah am besten aus, als sei man schon ermüdet zur Welt gekommen. Der Kapitalismus war in eine neue Phase getreten, in der Gier und Brutalität ziemlich cool daherkamen. Das Weiche und das Harte verhielten sich gegenseitig wie Maskeraden. Man war verletzlich und suizidgefährdet bis in ein Alter, das man eigentlich schon nicht mehr Jugend nennen konnte. Es war die Zeit für Stars wie Winona Ryder und Drew Barrymore, für Brad Pitt, Johnny Depp, Leonardo DiCaprio oder Matt Damon. Alle diese Darsteller haben eine gemeinsame Qualität des Passiven, ein wenig in sich gekehrt, sanft und romantisch, Rebellen ohne Mumm. Sie repräsentieren eine Generation, die sich in den Fallstricken von Neoliberalismus und White Trash befand. Sie sehen aus, als wären sie viel eher eine Gefahr für sich selbst als für die anderen. Sie lösten die Panzerkörper-Männer der Art von Stallone und Schwarzenegger ab, waren aber auch schon eine Alternative zu jugendlichen Aufsteigern wie Tom Cruise.
Edward Norton gehört nicht zu diesen Stars seiner Generation; er ist ein Schauspieler für die Widerspenstigen und Nachdenklichen. Dass er in dieses Modell nicht recht passt, liegt nicht nur an seinem Äußeren. Weder der Macho noch der Kindmann scheinen ihm gegeben, er hat kein Image, das über den äußeren und inneren Plot seiner Filme hinausging. Man würde ihn wahrscheinlich nicht einmal erkennen, wenn er einem in der U-Bahn gegenüber säße. Seine Ausstrahlung ist Ergebnis schauspielerischer Arbeit, kein Geschenk, keine Verliebtheit der Kamera. Er sieht nicht aus wie ein Mädchenschwarm und nicht wie eine geborene Kampfmaschine. Aber er braucht nicht viel, um das eine oder das andere darzustellen. Norton ist nicht, was er ist, sondern alles andere: Es sind seine Wandlungen, die seine Leinwand-Aura ausmachen – und das stellte er bereits in seinem ersten Film auf so eindrucksvolle Weise unter Beweis, dass man ihm das Etikett eines neuen Robert De Niro anheftete. Und so ein Etikett reißt man sich nicht unbedingt ab.
Während die anderen, Pitt, Depp, DiCaprio, die Ängste und Widersprüche der Generation X in sanftes Träumen und erotische Melancholie überführten, war Norton von Beginn an ein Darsteller des Problems selbst. Das Apathische bricht in seiner Gegenwart auf, es kann tückisch oder gewalttätig werden. Oder tragisch. Man lässt sich von einem wie ihm an die Punkte der eigenen Biografie und der eigenen Mythologie führen, an denen es wirklich weh tun kann. Es erwischt einen zu sehen, wie offen diese Kultur der Trägheit ist. Man kann zum rassistischen Killer (American History X), zum ambitionierten Anwalt (Larry Flynt) oder zum amoralischen Zocker (Rounders) werden. Hamlet ist immer dabei, in unterschiedlicher Dosierung. Erstaunlich, sagt man, wie viele unterschiedliche Charaktere Norton in seiner nicht gar so langen Karriere als Filmschauspieler schon mit gleicher Glaubwürdigkeit verkörpert hat. Das kann kein autobiografischer und kein „ikonischer“ Darsteller. Aber andererseits spricht niemand so intensiv und viel von „meiner Generation“ wie Norton. Niemand scheint von einer solchen Hassliebe zu einem bestimmten Zustand des Übergangs besessen. Edward Norton wurde zum wichtigsten Darsteller einer Generation, der er nicht wirklich angehörte und die vielleicht nur eine Erfindung der Medien war. Auch Nortons Beziehung mit Courtney Love entwickelte sich ganz und gar nicht zum Bild eines Gen-X-Traumpaars.
Das Chamäleon der Generation X
Edward Norton wuchs in einer gut situierten Bürgerfamilie auf, der Vater war hoher Jurist in der Carter-Ära, die Mutter Highschool-Lehrerin. Das Theater faszinierte den Jungen, seit ihn die Babysitterin als Fünfjährigen in eine Aschenputtel-Aufführung mitgenommen hatte. Er studierte Geschichte, Astronomie und Japanologie in Yale, wo er bereits auf der Studentenbühne stand. Nach einem Aufenthalt in Japan übersiedelte er nach New York, wo er in einigen Off-off-Broadway-Inszenierungen wie John Patrick Shanleys „Italian-American Reconciliation“ auftrat. Das übliche, nicht ganz leichte Leben mit schlecht bezahlten Engagements am Abend und Jobs als Kellner oder Korrektor, aber gewiss kein überwältigender Leidensdruck, keine persönliche Erfahrung mit der dark side. Norton begann schließlich bei der Signature Theatre Company 1994 in New York in Edward Albees „Fragments“ und blieb der Gruppe treu. Er ist der ehrgeizige, nervöse Junge, der ins Filmgeschäft als einer einsteigt, der viel weiß und noch viel mehr wissen will. Aber er bleibt auch im Film ein Schauspieler mit dem untrüglichen Gespür für Drama und Kontinuität. Der Trick seiner Darstellung in American History X ist es, dass Norton sozusagen im Hintergrund „Hamlet“ nicht nur als Rolle, sondern auch als Dramaturgie mitspielt. Norton sieht in jeder seiner Rollen zunächst die Matrix einer Tragödie.
Das Debüt war, wie man so sagt, sensationell. In Gregory Hoblits Primal Fear ist er (in einer ursprünglich für Leonardo DiCaprio konzipierten Rolle) der junge Ministrant Aaron Stampler, der des Mordes am Bischof verdächtigt wird, nachdem man ihn mit Blut an den Händen am Tatort erwischt hat. Er ist der stotternde Junge vom Lande, der in einer furchtbaren Abhängigkeit zum Opfer stand, ein seelenkranker Mörder, der gleichwohl seine Psychose nur vorgibt. Der Bruch, der sich in seinem Charakter zeigt (und wie man ihn schauspielerisch vorbereitet), ist am ehesten das, was den Film über den gewohnten Justiz-Thriller mit einem damals virulenten Psycho-Motiv hinaushebt.
Norton bekam bessere Kritiken als das gesamte Werk, und seine Performance verschaffte ihm schon damals den Titel des „besten jungen Schauspielers“, den er mit Filmen wie American History X und Fight Club bestätigte: kein neuer Star, ein neuer Schauspieler. In den vier Jahren nach Primal Fear drehte er sechs Filme, und jeder festigte seinen Ruf, nicht zuletzt, weil er die Rollen ausgesprochen klug wählte und jedes Mal eine neue Facette zeigte. Nur dass er aus persönlichen Gründen schließlich weder in Terrence Malicks The Thin Red Line noch Spielbergs Saving Private Ryan spielen konnte, musste Norton bedauern: Es sind Geschichte und Vergangenheit, die seiner Leinwand-Persona noch fehlen.
Ein ernsthafter junger Mann
Für American History X (Rege: Tony Kaye) brachte Norton zweieinhalb Monate seinen Körper in Form. Jede seiner Rollen definiert er zunächst einmal über die Physis. Er ist dabei so etwas wie die Dekadenzerscheinung der Panzerkörpermänner und zugleich ihre politische Dekonstruktion. Was er hier kultivieren darf, ist eine Art von Zorn, der seine Waffe auch gegen die Angst wird, die ihn umtreibt. Sein Körper ist die Waffe, seine Muskeln sind die Abwehr von Angst und Schmerz. Er wehrt ab, was ihn marginalisiert und fällt nur um so tiefer dabei. Für viele Kritiker schien schon diese Gestalt eine Art Wiederkehr und Neufassung von Robert De Niros Charakter in Scorseses Taxi Driver, und zumindest in der unbedingten Körperlichkeit der Rolle trifft das sicher zu: Wir sehen Männer, die ihren Körper zum Ausdruck ihrer seelischen Krankheit machen. Diese physische Präsenz, die Körperlichkeit bei Edward Norton, ist aber keine Lösung wie bei den Helden der Actionfilme. Sie ist ein Teil des Problems.
Der Film wurde schließlich berüchtigt – durch den „Krieg“, den der Regisseur mit dem Studio um den Schnitt führte, was auch zu Zerwürfnissen zwischen den Darstellern und dem Regisseur führte. Norton war am Endschnitt des Films beteiligt, den man dem Regisseur nach etlichen Monaten Arbeit aus der Hand genommen hatte. Kaye bezeichnete Norton in einem Interview als „narzisstischen Dilettanten“. Dass Norton nie mit vergleichbaren Mitteln zurückschlug, ist ebenso Teil seiner eigentümlichen Rolle in der Bilderfabrik geworden wie seine standhafte Weigerung, die Mauer zwischen dem Schauspieler und dem Menschen Norton auch nur berühren zu lassen. Wenn es eine Botschaft gibt, dann ist es die von der Ernsthaftigkeit und Nüchternheit, mit der da ein junger Mann einem verantwortungsvollen Beruf nachgeht: auf einer Bühne oder vor einer Kamera jemand anderer sein.
Rounders (Regie: John Dahl), zusammen mit Matt Damon gedreht, ist ein kleiner Ausflug ins Genre-Kino (der übrigens noch vor American History X in die Kinos kam). Die beiden sind ein Team von Pokerspielern: Damon hat das Spielen aufgegeben, muss aber seinem Freund helfen, der sich in Spielschulden verstrickt hat. Norton ist hier ein Typ von erlesener Amoralität. Neben dem rassistischen Mörder in American History X eine weitere Studie in „moralischer Passivität“ (Norton).
Und dazu gehört, genauer und schmerzhafter, auch David Finchers Fight Club. Das war, wie Norton sagte, „genau die Art von Filmen, wegen derer ich Schauspieler geworden bin.“ Fight Club wurde ein wahrer Kult, die Art von Kontroverse, über die die einen Aufsätze schreiben und in der die anderen so stecken bleiben, dass sie immer wieder zu den Bildern und Worten zurückkehren müssen.
Edward Norton ist der (namenlose) Erzähler, ein erfolgreicher Mann in der Businesswelt des Neoliberalismus. Als er Tyler Durden (Brad Pitt) trifft, verändert sich sein Leben radikal. Der Film erzählt vom Konflikt dieser neuen „Generation X“ der slacker und yuppies mit den materialistischen Werten Amerikas, und der Ausweg scheint nun ausschließlich im Körper zu liegen. Denn die Erlösung durch den Lebensstil, durch die Markenwelt von Glamourama erwies sich als Lüge. Tyler, das ist der „Nietzscheanische Übermensch“ als Versucher des Gen-X-Aufsteigers, der in seiner Welt die Leere spürt. Der Erzähler selbst aber, Norton, fragt eben nach den Grenzen des Nihilismus. Es ist nicht der Film, der eine Antwort gibt, und es ist auch nicht das Image des Schauspielers, das eine mythische Antwort gibt. Die Lektüre dieses Films ist durchaus schwierig. Und Norton nahm aus diesem Film eher ein Level des Anspruchs als ein fertiges Image mit. Aber er hat darin exakt den Punkt beschrieben, an dem sich Selbstbestätigung und Selbstaufhebung der Generation X begegnen.
Es ist das Meisterwerk, das jeder Schauspieler braucht, um seinen Standort zu definieren, der Höhepunkt in gewisser Weise einer Trilogie der Soziopathie, die Norton mit American History X und Rounders schuf. In allen diesen Filmen sehen wir eine Grenze überschritten, das Zweigesichtige eines Charakters: Der Nazi-Skin, der einen farbigen Jungen zu Tode tritt,und der im Gefängnis so sanft und weich werden kann, wie umgekehrt der Yuppie in Fight Club aus seiner Weichheit die Brutalität holt. Was in seinem ersten Film angelegt ist, dieser radikale emotionale Bruch, der uns anschließend an die Stabilität der Gefühle und ihrer (cineastischen) Wahrnehmung nicht mehr glauben lässt, das ist schließlich in Spike Lees 25 Stunden tiefer in den Charakter eingeschrieben. Zwei Seiten einer Person, die eng miteinander verknüpft sind und nach außen wie Krieg und Frieden, Tag und Nacht wirken.
Dort, wo es wirklich wehtun kann
Dass dieser Bruch in allen Filmen Nortons zugleich so überraschend und so glaubwürdig erscheint, liegt gewiss in einer schauspielerischen Technik des Nie-zu-viel-Tuns. Immer bleibt genug offen, immer sind schon Stellen angelegt, die auf das andere, die zweite Seite des Charakters hinweisen. Keine Antwort, die nicht auch wieder Frage wäre. Das hängt vermutlich auch mit Nortons Auffassung von Schauspielerei zusammen. Norton ist, sagt er selbst, besessen von der Möglichkeit, mit seinen Mitteln eine Geschichte zu erzählen. Was für ihn zählt, ist nicht das Bild, nicht einmal der Charakter in erster Linie, sondern die Geschichte. An einer Rolle interessiert ihn vor allem die Entwicklung. Man könnte wohl sagen, er arbeitet, wie De Niro in seinen besten Augenblicken, als Schauspieler wie ein zweiter Drehbuchautor. Er sucht nach Möglichkeiten, die Wandlungen, die ein Drehbuch immer nur behaupten kann, in Bewegungen und Ausdrücke zu übersetzen. Seine großen Szenen sind daher bemerkenswert uneitel. Fight Club ist ein Höhe- und Schlusspunkt.
Als Regisseur inszenierte Norton in seinem Debüt Glauben ist alles deshalb nicht zuletzt einen Image- und Ton-Wechsel. Er öffnete sich selbst ein Feld, das ihm bislang zumindest im Kino verschlossen war, die romantische Komödie. Glauben ist alles ist „old school“, wie er selbst betont. Jake (Ben Stiller) und Brian (Norton) sind Freunde seit ihrer Kindheit. Erfolgreich und selbstsicher, bis ihre Jugendfreundin Anna (Jenna Elfman) in die Stadt zurückkehrt. Das Liebes- und Angstdreieck ist deswegen komplizierter als gewohnt, weil Brian ein katholischer Priester ist und Jake ein jüdischer Rabbi. Norton hat sich hier ganz buchstäblich aufgehellt (das „Chamäleon“ erscheint blond). Und natürlich war das auch das Selbstporträt eines „jungen Mannes, der mit viel Ambition nach oben gekommen ist, und dabei ein bisschen zuviel Selbstvertrauen angehäuft hat“ (Norton). Und nicht zuletzt ist es, Priester hin, Rabbi her, ein Film über Menschen, die gerade 30 geworden sind. Vielleicht verabschiedet sich Norton hier auch endgültig von der Generation-X-Mythologie. So ist es nicht nur ein Porträt der letzten Yuppie-Generation (in bemerkenswertem Ambiente), sondern auch das Drama/die Komödie einer tiefen Verunsicherung. Den sicheren Platz, den sich die drei in der Gesellschaft erhofft haben, den gibt es nicht. Aber da ist noch etwas, was vielleicht Nortons Arbeit treffend beschreibt und was ihm auch als Regisseur am Herzen lag: „In den Komödien unserer Generation war Ironie die Regel. Wenn wir eine Formel haben, dann ist es diese von Angst erfüllte, beinahe existenzielle Komödie. Ich fand es interessant, etwas zu machen, wo die Charaktere vollkommen ohne Ironie sind.“
„Ironie ist die Krankheit unserer Generation“, betont er noch an anderer Stelle. Norton ist eine Waffe gegen die Seuche der Ironie, ein Antidot gegen die frivole Postmoderne im Kino. Auch Larry Flynt hat er erst angenommen, als Regisseur Forman ihm vermittelte, dass es um mehr als eine Satire geht. Ein zweites Element seiner Leinwand-Persona ist eine Art der Überwindung von Einsamkeit. Die Helden dieser Generation scheinen entweder gerne allein oder aber konsequent narzisstisch zu sein. Norton untersucht diese Ikonographie der männlichen Autarkie, aber er akzeptiert sie nicht. „Um die Person zu werden, die man werden will, muss man ein wenig Vertrauen in andere Menschen setzen können.“ Das ist möglicherweise das „Thema“ von Nortons Schauspieler-Arbeit. Wie kann man Vertrauen haben in der kapitalistischen Welt, ohne genau daran zu Grunde zu gehen?
In The Score (Regie: Frank Oz) ist Norton neben De Niro und Marlon Brando als Jackie Teller zu sehen, der sein großes Vorbild dazu zwingt, noch einmal einen großen Coup zu landen, eine caper-Geschichte um französische Antiquitäten in Montreal und eine Etüde in Filmschauspielerei. Die Geschichte scheint vor allem ein großartiger Vorwand, diese verschiedenen Schauspieler-Generationen miteinander zu vereinen und eine Linie zu ziehen: Brando, der Ironiker; De Niro, der Besessene; Edward Norton, der Ernsthafte.
Trilogie des Soziopathischen
Eher leicht ist auch der Ton von Death to Smoochy (Regie: Danny DeVito): Robin Williams ist in der schwarzen Komödie der Moderator eines Kinderprogramms, der dann von Edward Norton (in einem pinkfarbenen Rhinozeros-Kostüm!) ersetzt wird und der ihn ermorden will. Auch das kann man als eine Metapher sehen, als Maskerade jener Tragödie, die Norton immer wieder mit spielt. Und: Dies ist eine Komödie – aber es gibt darin keine Ironie.
Vielseitigkeit gehört zu Nortons Job. Er tritt immer wieder auf der Bühne auf und schrieb wichtige Teile von Julie Taymors Frida (wo er einen Cameo-Auftritt als Nelson Rockefeller hat). Er produziert etwa Fear Itself, ein Remake von Peckinpahs Straw Dogs, und schreibt an einem Drehbuch nach einem Roman von Jonathan Lethem, „Motherless Brooklyn“, wo er einen Detektiv spielt, der am Tourette-Syndrom leidet und dem nur wenig Zeit bleibt, den Mörder seines Freundes und Mentors zu finden. Zweimal wurde er für den Oscar nominiert, für American History X als „Bester Schauspieler“ und als „Bester Nebendarsteller“ für Primal Fear, für den er auch den „Golden Globe“ erhielt. Ganz konnte Norton dieses Niveau nicht halten. In Roter Drache, dem Prequel von Das Schweigen der Lämmer, spielt er den FBI-Agenten auf der Fährte des Kannibalen. Wenn man will, kann man seinen Blick in diesem Film so genau untersuchen wie den von Jodie Foster als Clarice Starling.
Eine große Wandlung, nun noch einmal: In Spike Lees 25 Stunden ist er der Drogendealer, der seine letzten Stunden in Freiheit verbringt, bevor er für sieben Jahre ins Gefängnis geht. Seine Wege durch die Stadt mit seinen Freunden (Philipp Seymour Hoffman, Barry Pepper) und seiner Freundin (Rosario Dawson) werden zu einer Bestandsaufnahme seines Lebens. Zum ersten Mal geht der Blick zurück, im Augenblick des Entschwindens jener Gegenwärtigkeit, die Nortons Zeit war.
Kein neuer Star – ein neuer Schauspieler
Norton ist der Mann, der geht. Er passt in die Stadt, in der man seine Dinge zu Fuß erledigen kann, es ist seine angemessene Bewegung, so wie für andere das Automobil oder das Pferd die richtigen Bewegungen vorgeben. In Nortons Gang steckt eine Mischung aus Kraft und Melancholie, Unsicherheit und Stil. Gehend wird man zum Forscher. Er sucht, wie er selbst sagt, in einer Rolle immer zuerst das andere, etwas, das er nicht versteht und dem er bis in die Wurzeln eines Charakters nachgehen kann. Er studiert unermüdlich Menschen. Kein Wunder, dass die Fotografie zu seiner zweiten Leidenschaft wurde. Eine Zeit lang liebte er es, durch New York zu gehen und die Persönlichkeit von Passanten zu übernehmen, denen er zufällig begegnete: den Gang, die Interessen, den Blick, die Ticks. Schauspielerei ist Handwerk, sagt Edward Norton, und das ist etwas, worauf man stolz sein kann. Für seine erste Rolle in Primal Fear erlernte er anhand von Coalminer’s Daughter einen Kentucky-Akzent. Für The Score arbeitete er mit Polizisten und ließ sich in einem Heim für Behinderte unterweisen. Für American History X verwandelte er sich auch körperlich in den „Über-Skinhead“: nahm über 30 Pfund zu und führte lange Gespräche mit „echten“ Skinheads. Die physische Veränderung und die Veränderung der Sprache sind stets die ersten Schritte, die Elastizität einer Rolle zu erproben: die Strecke, die man in ihr gehen kann.
Was allerdings den Charakteren Nortons immer anhaftet, ist eine ursprüngliche Naivität, eine Formbarkeit und Unfertigkeit. Wir sehen da immer jemandem zu, der etwas wird oder der etwas verliert. Und es ist in der Tat schwer, den Norton-Charakter nicht irgendwie gern zu haben. Vielleicht ist es nicht so abwegig, wenn ihn sein Freund, der Drehbuchautor Stuart Blumberg, als den James Stewart unserer Tage bezeichnet. Wie Robert De Niro setzt er seine Fähigkeiten so sparsam wie punktgenau ein. Es fällt schwer, in dem dunklen verschlossenen Charakter von 25 Stunden den selben Darsteller zu sehen wie in dem verletzlich-offenen, hellen Agenten von Roter Drache. Diese zwei Charaktere indes markieren die Bandbreite seiner Leinwand-Persona: der Mensch, der zu viel, und der Mensch, der zu wenig in sich hinein gelassen hat.
Sehr einfach drückt das Norton mit Bezug auf 25 Stunden aus: „Es ist ein Unterschied zwischen einem Protagonisten und einem Helden.“ Norton ist ein Protagonist. Er untersucht Charaktere, leichtgewichtige wie komplizierte. Er bietet kein Rollenmodell an. Seiner Generation – den Mittdreißigern – zeigt er eher, wo man herkam als wohin es gehen könnte. Wenn er ein neuer Jimmy Stewart ist, dann weniger der von Capra als der von Anthony Mann. Hinter der Naivität und Freundlichkeit steckt stets das Andere. Die Konsequenz der moralischen Passivität: das ist es, was Norton immer wieder untersucht. Der nicht-ironische, nicht gespaltene Charakter kommt immer wieder an einen Punkt, an dem er sich fragen muss, was er eigentlich getan hat – und ob es nicht schon zu spät ist, die Selbstreflexion nachzuholen.
Vielleicht stellt er seine Generation so perfekt dar, weil er nicht von ihr infiziert ist. „Ich möchte nicht, dass die Leute zu viel von mir wissen.“ Edward’s pictures are not pictures of Edward.
Autor: Georg Seeßlen
Text veröfentlicht in epd Film 5/2003
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