Der romantische Dekonstruktivist
Gegenüber Sergio Leone, der 1964 noch als „Bob Robertson“ (eine Verbeugung vor seinem Vater Vincenzo Leone, der sich als Regisseur das Pseudonym Roberto Roberti zugelegt hatte) seinen ersten Western FÜR EIN PAAR DOLLAR MEHR gedreht hat, gab es in der deutschen Filmkritik etwa drei Haltungen. Und Haltungen musste es geben, zu deutlich war, dass da nicht bloß ein weiterer Gebrauchsregisseur mit ein paar manieristischen Macken am Werk war:
Sergio Leone sei der „Vater“ des Italowestern, eines sonderbar hybriden, zugleich faszinierenden und ausgesprochen destruktiven Genres gewesen. Das mag stimmen, insofern Leone mit seinen „Dollar“-Filmen zum ersten Mal für Aufsehen (und ungewöhnlich volle Kinokassen) gesorgt hat; das Genre allerdings war schon vorher im Sattel: FÜR EIN PAAR DOLLAR MEHR war etwa der sechsundzwanzigste italienische Western der sechziger Jahre.
Sergio Leone sei ein unheilbarer Zerstörer der epischen und mythopoetischen Möglichkeiten des Kinos gewesen, ein kindischer Sadist, der der Sprache des Kinos Gewalt antat.
Und Sergio Leone sei so etwas wie ein strukturalistischer Manierist, der das Genre-Kino gleichsam in seine linguistischen Einzelteile zerlegt habe und dem für diesen „blasphemischen“ Akt der Dekonstruktion nicht genug zu danken sei.
All das ist gewiss falsch, und an allem ist ein wenig Wahres. Mit 18 Jahren hat Leone begonnen, als Regie-Assistent zu arbeiten, bei De Sicas FAHRRADDIEBE, wo er auch eine kleine Rolle übernahm. Leone hat oft darauf hingewiesen, dass sein cineastischer Urquell im Neorealismus liege. Bei insgesamt über sechzig Filmen hat Leone assistiert, bei italienischen Regisseuren wie Luigi Comencini und Mario Soldati und bei amerikanischen wie Anthony Mann, Robert Wise und Raoul Walsh. Dieses Zusammentreffen italienischer und amerikanischer Filmtraditionen, das sich einerseits von der ökonomischen Struktur von Cinecittà, andererseits von der von den fünfziger Jahren in die Sechziger reichenden Begeisterung des amerikanischen Filmes für europäische Themen und europäisches Ambiente herleitete, hat eine Reihe von Leones Kollegen beeinflusst und ein italienisches „Cinema di plagio“, ein Kino der Genreimitationen initiiert. Aber bei Leone hat das noch ein paar andere, analytische Kino-Ideen ausgelöst. Seine ersten Regieerfahrungen sammelte er im Genre des Antikfilms; er übernahm vom erkrankten Mario Bonnard die Regie bei DIE LETZTEN TAGE VON POMPEJI. Danach realisierte er in eigener Regie DER KOLOSS VON RHODOS. Nach der Zusammenarbeit mit Robert Aldrich bei SODOM UND GOMORRHA (1962) folgte der erste Teil der Western-Trilogie, die 1967 mit ZWEI GLORREICHE HALUNKEN ihren Abschluss fand. 1968 begann mit SPIEL MIR DAS LIED VOM TOD eine zweite Trilogie von Filmen über Amerika. Diese Trilogie verdankt ihre Entstehung im übrigen dem Umstand, dass Leone vor seinem Projekt über die amerikanischen Gangster weitere Western abverlangt worden waren.
Dass Leone für FÜR EINE HANDVOLL DOLLAR den Weg eines inoffiziellen Remakes eines Filmes von Akira Kurosawa wählte (was auch einige rechtliche Probleme nach sich zog), wies gleichsam anekdotisch schon auf kommende Prozesse der Verfremdung. Denn anders als DIE GLORREICHEN SIEBEN zeigte Leones „Western“ nicht in erster Linie die Übertragbarkeit, sondern zunächst die Beliebigkeit der darin verwendeten Zeichen. Kommerziell erfolgreich wurden die Filme der „Dollar-Trilogie“ ganz offensichtlich, weil sie es vermochten, der Abnutzung der Genre-Zeichen im amerikanischen Western neue Sensationen gegenüberzustellen. Es war möglich, sie zu „übertreiben“, sie zu abstrahieren, sie „unfair“ einzusetzen, sie zu parodieren, sie gegen den Strich zu verwenden; nur „selbstverständlich“ und „einfach“ waren die Codes des Genres in diesen Filmen an keiner Stelle.
Die Kritik verübelte es den Filmen besonders, dass sie nicht mehr von einem historisch-mythischen Raum, sondern vom Hier und Jetzt, von den „Hässlichkeiten des Kapitalismus“ handelten; der Held konnte sich ohne weiteres einen Vorteil verschaffen, wenn er das Prinzip der „ritterlichen“ Waffengleichheit durchbrach. Nach den eher negativen Erfahrungen mit dem zweiten Teil der zweiten Trilogie, TODESMELODIE, verlegte sich Sergio Leone aufs Produzieren (unter anderem MEIN NAME IST NOBODY mit Terence Hill und Henry Fonda, eine Form der Parodie und zugleich die Fortsetzung der Auseinandersetzung mit dem Western-Mythos), bevor er Jahre später seine Trilogie mit ES WAR EINMAL IN AMERIKA beenden konnte, wo der Leone-Manierismus zu einem neuen Dialog mit dem Erzählkino fand. Leone hatte hier so etwas Widersprüchliches wie eine strukturale Restauration des Epos unternommen, und immerhin waren nun auch eine Reihe ehemaliger Gegner bereit anzuerkennen, daß er einer der großen europäischen Regisseure jenseits der Produktionsbedingungen von Autoren- und Förderungsfilmen war, der sich überdies standhaft jeder Zusammenarbeit mit dem Fernsehen verweigerte und dabei gleichsam automatisch in immer gewaltigere Produktionsetats und -vernetzungen geriet. Mit seinem russischen Projekt (das nicht ohne amerikanische Beteiligung, einen amerikanischen Star und eine amerikanische Perspektive ausgekommen wäre) hätte Sergio Leone eine cineastische Neuentdeckung Europas beginnen können.
Sergio Leones zwei Trilogien stehen sich überdeutlich als methodische, ästhetische (und biographische) Widersprüche gegenüber. Die „Dollar-Trilogie“, die innerhalb von vier Jahren entstand (und dies ist nicht der einzige Grund, sie die „schnelle Trilogie“ zu nennen), ist in gewisser Weise eine materialistische Analyse des Western-Mythos, was unter anderem heißt, daß die Helden gegen die Semiotik und gegen die Moral des Genres verstoßen müssen, um ihre einfachen Interessen durchzusetzen. Weil zu diesem Zeitpunkt niemand mehr an den „Edelmut“ glauben konnte, den der klassische Westerner hinter seiner Lakonie verbarg, erwies sich Leones Held als ungemein zeitgemäß. Irene Bignardi hat in ihrem Aufsatz in der Repubblica, „Leone: I‘ America nel cuore“, geschrieben, dass der Regisseur in diesen drei Filmen die „Zerlegbarkeit des Mythos“ zelebriere, „ohne ihm Intensität und Lust zu rauben“. Diese Zerlegbarkeit aber war nur an Hand eines Helden zu belegen, der keine historischen, sondern ausschließlich individuelle Aufgaben zu bewältigen hat.
Leone hatte bei diesen Filmen das „unverschämte“ Glück, in Clint Eastwood einen Darsteller zu finden, der instinktiv mit einer mythischen Geste auf den ungeheuer indiskreten Zugriff der Kamera reagierte. Er versteinerte nicht nur, um den Gegner zu täuschen, sondern auch, um die von einer Art morbider Gespensterform des Neorealismus (ist Manierismus nicht auch so etwas wie ein Realismus der Nebensache?) infizierte, detailbesessene Bildsuche der Regie abzuwehren. Leone möchte alles Mögliche in diesem Gesicht entdecken, und Clint Eastwood scheint zu antworten: Es gibt hier nichts zu entdecken (schon gar nicht, was Leone in den Gesichtern der Männer in der zweiten Trilogie entdeckt). Die geometrisch klare Konstruktion der Interessen und die manieristische Loslösung des (lebendigen und dinglichen) Details sind in einem dead pan-Darstellungsstil aufgefangen, und Clint Eastwood ist überdies auch wegen seiner gleichsam mechanischen Unbeirrbarkeit so etwas wie ein Nachfahr Buster Keatons im Westen.
Die „langsame“ Trilogie der amerikanischen Märchen ist die Vollendung, der Verfall und die ästhetisch gereifte Wiedergeburt der manieristischen Methode, zugleich aber auch das Werk eines romantischen Dekonstruktivisten. Zunächst die Verwandlung einer (untauglich werdenden) National- und Traum-Mythologie in eine „Oper“: Verdi in Far West. Morricone, der stets mit Leone zusammengearbeitet hat, gibt sozusagen musikalische Motive vor, die von der Kamera „orchestriert“ werden, die überdies eine außerordentlich scharfe Grenze zwischen „Chor“ und „Solisten“ zieht. Der Wechsel von (oft extremer) Nahaufnahme und den „erhebenden“ Kranfahrten ist unter musikalischen viel eher als unter mythisch-narrativen Gesichtspunkten zu verstehen. Aber wie die Oper, so ist auch Leones dekonstruktivistischer Kunst-Western nicht nur ein Mittel, den Mythos auf eine andere Besitzklasse zu übertragen (vom „Volk“ auf den „Bürger“ beispielsweise, oder von Amerika nach Europa), sondern auch eine Transponierung auf eine höhere Form ästhetischer Reflexion. So wie in der Oper das Bürgertum der Legende, so begegnet in Leones C’ERA UNA VOLTA-Trilogie der so skeptische wie Amerika-süchtige Europäer dem Werden Amerikas als Metapher für die Welt.
Der Mittelteil dieser Trilogie, TODESMELODIE, gilt allgemein als „gescheitert“ (und auch Leone konnte sich nicht dazu durchringen, diesen Film als ein „wildes Kind“ zu lieben); genauer gesagt: die Zertrümmerung des Mythos (und auch die Revolution ist, ob uns das nun gefällt oder nicht, in erster Linie ein Mythos) liefert hier nicht mehr das rechte Material zum Spiel des Zusammensetzens. Wohlwollend (und ich bin bei allem, was Leone betrifft, unsachlich wohlwollend) ließe sich sagen: Auf Verdi in Far West folgte Rossini in Mexiko.
Am besten ist dies übrigens in den beiden „Ouvertüren“ zu studieren: hier das von quälend und zugleich hoffnungslos packenden Detailbeobachtungen eingeleitete Showdown; dort der in den Staub pinkelnde Rod Steiger (vielleicht nicht der ideale Leone-Darsteller), von dem sich der Blick in die Weite bohrt, wo sich der Gegenstand seines Banditen-Handwerks, das absurd luxuriöse Gefährt, nähert. Im übrigen darf man wohl behaupten, dass Leones Filme auch darin Opern gleichen, daß in ihnen die Arie aus der Handlung herauszutreten vermag. So ist in Leones Filmen, ganz un-episch, die Figur nicht ganz und gar mit der Fabel identisch, sie erklärt sich in Form der „Arie“.
Im Mythos kann die Zeit gewissermaßen unendlich verdichtet werden: Die Vergangenheit ist immer auch heute und ewig. Die Oper dagegen vermag die Zeit beinahe unendlich zu dehnen, sie „in Momenten“ schier zum Stillstand zu bringen. So wird klar, daß im Zusammenprall beider Erzählformen, wie sie Leone auf die Leinwand bringt, entsteht, was der Regisseur so bezeichnet: „Mein Hauptdarsteller ist die Zeit.“
TODESMELODIE ist im ersten Drittel beinahe eine Hommage an Laurel & Hardy: Dieser Teil des Films besteht fast ausschließlich aus einer Aneinanderreihung von Slowburns. Was beweist, daß die Verlangsamung der Zeit auch in Leones verschmutztem Kino-Universum nicht nur befremdlich oder tragisch, sondern auch ausgesprochen komisch sein kann.
TODESMELODIE nimmt aber noch mehr als SPIEL MIR DAS LIED VOM TOD die brüchige Zeitverklammerung von ES WAR EINMAL IN AMERIKA vorweg: Die Geschichte eines Mannes im dekonstruierten Mythos ist zugleich die Geschichte einer Kindheit; der Junge, der seinem Vater das Lied vom Tod spielen musste; der junge irische Revolutionär; der Straßenjunge in New York. Am Beginn des Märchens stehen traumatische Begegnungen mit der Gewalt (und Leone hat freimütig bekannt, dass die gelegentlich „übertrieben“ harten Gewaltszenen in seinen Filmen sich dem Umstand verdanken, daß er ein „ängstlicher Mensch“ sei).
Man kann die erste Trilogie auch als „Komödie der Feindschaft“ bezeichnen und die zweite Trilogie eine „Tragödie der Freundschaft“. Und wie die Feindschaft die Zeit zu verdichten scheint, so dehnt sie die Freundschaft, die, nebenbei, ein sehr viel größeres „Problem“ bildet. Damit verbunden ist, dass es in Leones Filmen wesentlich mehr um Motive geht als um die Fabel; man kann sie, einmal mehr wie in der Oper, mehr oder weniger vergessen, ohne dass der ästhetische, aber auch der „politische“ Gehalt darunter litte. Es ist die Geste, nicht die Geschichte, die auf das Publikum überspringt, weshalb Leones Filme letztlich gar nicht anders denn als „Kultfilme“ funktionieren können.
Daß Leones Filme so sehr der Oper gleichen – so ist jeder Figur eine Leitmelodie und ein Haupt-Zeichen zugeordnet, die Figuren haben „Auftritte“, die weit über die Fabel hinausgehen, und am Ende „verbeugen“ sie sich gleichsam noch vor dem fallenden Vorhang – ist nicht bloß eine besondere Form der europäischen Aneignung amerikanischer Mythopoetik; es reicht als transkultureller Dialog tief in unsere Geschichte nach dem Weltkrieg.
Der Import amerikanischer popular culture war für die Generationen, denen Leone und sein Publikum angehörten, gleichsam überlebensnotwendig. Nicht nur hatte der Faschismus diesen transatlantischen Dialog unterbrochen (und damit ein ungeheures Potential von Amerika-Sehnsucht geschaffen), er hatte auch den Zugang zu eigenen Traditionen, nicht allein in den faschistischen Ländern Italien und Deutschland, erschwert. Amerikanische popular culture war gleichsam in die kulturelle Identität dieser Nachkriegsgenerationen eingebaut. Sie hatte das ersehnte Gut verheißen: Unschuld. Der Italowestern, und darin, als Ferment und als Fremdkörper, das Werk Leones, entwickelte sich gewiss nicht zufällig zu einer Zeit, wo, unter anderem durch den Vietnam-Krieg bedingt, die europäische Jugend zum ersten Mal heftige Zweifel an der Verläßlichkeit US-amerikanischer Mythen überfiele. Das Ergebnis war, was sonst, Widersprüchlichkeit. Was zuallererst vonnöten war, das war, dieser popular culture das Epische, den Anspruch auf ewige Ganzheit und organische „Richtigkeit“ zu nehmen. Es war nicht sinnvoll, sie abzulehnen, es war das Gebot der Stunde, damit zu beginnen, das Fremde an ihr zu bestimmen. Sergio Leone hat sehr viel dafür getan. Ob er es wußte, ob wir es gewußt haben: Er war ein ausgesprochen politischer Regisseur.
Nicht mehr auf den nächsten Leone-Film warten zu können macht unseren Beruf wieder etwas ärmer.
Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in epd Film 7/89
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