Jimmy konnte alles spielen
James Stewart war in seinen Filmen nie ein Abenteurer. Aber immer fand das Abenteuer ihn. Als aufrechter Durchschnittsmensch kämpfte er stellvertretend den Kampf der Kleinen gegen die Großen
Wenn es je einen amerikanischen Archetyp gab, dann war das James Stewart. Er verkörperte alles, was an den USA so liebenswert, so unerreichbar für Europäer erscheint: den Optimismus, die Geradlinigkeit, die Naivität, die Musikalität von Bewegungen und Gesten. James Stewart war das Gegenteil von John Wayne, dem anderen amerikanischen Prototyp, dem ewigen Gewalttäter und Unbehausten. James Stewart war überall zu Hause, weil er in sich selbst zu Hause war.
Er ist vielleicht der einzige, dem das große amerikanische Projekt, die Verwandlung des Jungen vom Lande in einen modernen Stadtmenschen, reibungslos gelingen konnte. Am Mittwoch (02.07.1997) ist James Stewart im Alter von 89 Jahren in seinem Haus in Beverly Hills gestorben, nur einen Tag nach Robert Mitchum. Die Nation trauert um einen ihrer größten Schauspieler. Und selbst Präsident Bill Clinton gibt sich ergriffen: „Amerika hat heute einen nationalen Schatz verloren“, sagt er.
Stewarts Charme, leicht linkisch und anscheinend ohne allzu viel Selbstbewußtsein, verbreitete stets ein Gefühl der Menschlichkeit, der freundlichen Möglichkeit der Schwäche und der ironischen Distanzierung. Niemand mußte vor etwas Angst haben außer vor James Stewarts erotischer, politischer und semantischer Unschuld. Deshalb nannten ihn nicht nur seine Freunde, sondern auch das Publikum so gerne Jimmy. In manchen Kriminalfilmen konnte er diesen Anflug von Unbedarftheit auch als Tarnung verwenden, in anderen stürzte die Verwirrung ihn in Verzweiflung. Wenn einer wie er, mit den Lippen und Augen eines sehnenden und wartenden Kindes, am Rande des Nervenzusammenbruchs balancierte, dann war das schon besonders komisch. Seine scheinbare Gehemmtheit steht im Gegensatz zu seiner grenzenlosen, politischen wie romantischen Begeisterungsfähigkeit. Er ist der amerikanische Parzival, der den Heiligen Gral längst gefunden hat, nur erkennen ihn die anderen nicht. Und so wie einerseits seine eigentliche Kraft erst hinter der Durchschnittlichkeit hervortreten mußte, so mußte andererseits dieser Begeisterung gelegentlich ein Dämpfer verpaßt werden.
Stewart konnte weder so zynisch wie Cary Grant noch so skeptisch wie Gregory Peck noch so heroisch wie Gary Cooper werden. Der Junge vom Lande blieb Zeit seines Lebens ein Lernender. So war er am Anfang vielleicht der Junge, der nur nach der richtigen Frau suchte, um zum Mann zu werden, und vorläufig, wie in George Cukors „Philadelphia Story“ (1940), verliert er noch gegen Cary Grant. Aber zur gleichen Zeit war er auch Symbol für das Amerika vor dem Sündenfall, ein Versprechen von Verläßlichkeit auch in schwerer Zeit. Als das ganze Pose geworden war, zumindest bewußt eingesetztes Mittel, mußte auch die verborgene Tragödie dieses Menschen zum Vorschein treten. So ist er eigentlich nie ein Abenteurer, das Abenteuer muß ihn schon suchen. Er ist alles andere als ein Mann der Tat, aber er ist ein Auserwählter: Das Schicksal sucht ausgerechnet ihn, den Unschuldigsten und Durchschnittlichsten aus, um das amerikanische Ideal zu erfüllen.
James Stewart wurde 1908 als Sohn eines Eisenwarenhändlers in Indiana, Pennsylvanien, geboren und wuchs in einer liebevollen, bürgerlich familiären Middle America-Atmosphäre auf, die vielen seiner Filme noch anzumerken ist. Er begann schon als Architekturstudent an der Princeton Universität mit der Schauspielerei und schloß sich später nach anderen Versuchen – etwa als Akkordeon-Spieler in einer Teestube – professionellen Theatertruppen an, darunter Joshua Logans „University Players“, wo er unter anderem mit Henry Fonda zusammenarbeitete .Zeit ihres Lebens blieb eine spannungsvolle Freundschaft zwischen den beiden. Fonda meinte später: „Ich fragte mich ernsthaft: Wie konnte dieser Kerl so wenig auf der Bühne tun und dabei so verdammt gut sein.“
Stewart war schon ein gefragter Schauspieler am Broadway, wenn auch nicht gerade ein Star, als er 1935 von einem Talent-Scout von MGM nach Hollywood geholt wurde. Als Vertragsschauspieler debütierte er in „Murder Man“ und hatte dann ein paar Nebenrollen, darunter gar als Mörder in „After the Thin Man“ (1936). Er spielte so ziemlich alles vom singenden Seemann bis zum Gangster, aber sein Star-Potential war auf diese Weise kaum zu entwickeln. Sein eigentliches Rollenfach bildete der schlaksige, freundliche Mann in den screwball comedies wie „The Shopworn Angel“ (1938) und der aufrecht unschuldige Held von New Deal-Phantasien wie Frank Capras „Mr.Smith Goes to Washington“ (1939). Er ist der Durchschnittsamerikaner, der den Kampf mit den Großen aufnimmt, sich gegen Ungerechtigkeiten wehrt und am Ende die alten Tugenden der Pioniergesellschaft, die nachbarschaftliche Solidarität, die autonome Tatkraft mobilisiert, um dem Treiben von Politik und Wirtschaft ein menschliches Gesicht abzuverlangen. Er ist der amerikanische Held, der durch seine kleinen Defekte und Ticks, seine schleppende Sprechweise, sein scheinbar ständiges Suchen nach richtigen Worten oder Gesten, das traumwandlerisch doch immer zum Ziel führt, erst wirklich authentisch wird. In dem komischen Western „Destry Rides Again“ (1939) beginnt er – scheinbar umständlich – immer wieder den Dialog mit „Ich kannte mal einen Kerl, der…“. Und während er wie zu sich selbst brabbelnd durch die Western-Town schlendert, beobachtet er scharf und lauernd seine Umgebung.
Beinahe selbstverständlich wurde James Stewart zum amerikanischen Kriegshelden; Er brachte es zum Brigadegeneral der Luftwaffe. Nach Kriegsende kehrte er zunächst ins Komödienfach zurück. Aber ein über vierzigjähriger Kriegsheld war etwas anderes als ein naiver Junge vom Lande. Nur noch einmal, in Henry Kosters „Harvey“ (1950), war Stewart durch und durch überzeugend und erfolgreich in einer Komödien-Rolle. Und da war, wenn man genauer hinsah, vielleicht auch schon vom Verlust der Unschuld die Rede, in einer Geschichte von einem Kerl, der lieber mit ein paar Drinks und einem indianischen Riesenkaninchen als mit seinen amerikanischen Zeitgenossen spricht. Sein eigentliches Comeback aber hatte Stewart dann in dramatischen Filmen, in der Zusammenarbeit mit Alfred Hitchcock, bei „Robe“ (1948), „Rear Window“ (1954) und „Vertigo“ (1958) zum Beispiel, und in den Western von Anthony Mann, beginnend mit „Broken Arrow“ (1950). In allen diesen Filmen ist die Selbstverständlichkeit des amerikanischen Archetypus dahin; Hitchcock demontiert Parzival, läßt ihn leiden und zweifeln. Er stellt die Konstellation der frühen Stewart-Filme auf den Kopf: Stewart ist nun nicht mehr der amerikanische Durchschnittsmann, der aus der Solidarität der Mitte heraus die historischen und gesellschaftlichen Probleme löst, sondern einer, der aus dieser Mitte in die Hölle vollkommen undurchschnittlicher Gefahren und Intrigen geschleudert wird. In Anthony Manns Western ist Stewart der „Overreacher“, der Mann, der sich in eine titanische Aufgabe der Rache stürzt. Der Mann, der in „Destry Rides Again“ noch kunstreich jede Gewalt zu vermeiden gewußt hatte, ist in diesen Filmen mehr und mehr ein von Gewalt Besessener, ein Mann, der seine humanistischen und zivilisatorischen Ziele aus den Augen verliert, weil seine Ideale verraten wurden. Und es ist vielleicht kein Wunder, daß sich der späte James Stewart wieder in der amerikanischen Provinz entfalten kann, daß er in der neuen Stadt wieder zum Fremden wird. In John Fords Western ist er beinahe immer so etwas wie die Karikatur eines Westerners auf dem Weg zum Städter, ein Opportunist vielleicht, ein Mann, der sich den großen nationalen Aufgaben jedenfalls zu entziehen trachtet, aber von ihnen profitiert. Der kleine Mangel an Gelassenheit, das Zögern vor dem letzten Moment der Tat, das vordem seine Rollen glaubwürdig machte, wurde nun zum eigentlichen Problem. Aber selbst als eher zweifelhafter Charakter bleiben ihm als unverlierbare Werte die unverbrüchliche Treue zu sich selbst und die Aufrichtigkeit noch im Bekenntnis zur eigenen Schwäche. Und in Otto Premingers schönem Justizthriller „Anatomy of a Murder“ (1959) geht sein aufrechter, unbeirrbarer Einsatz für einen des Mordes angeklagten Soldaten und seine Frau beinahe ins Leere.
An Stewarts Rolle in dem Film angelehnt war seine Fernsehserie „Hawkins“, Geschichten um einen listig linkischen Rechtsanwalt mit einem untrüglichen Gespür für Gerechtigkeit, der nicht so sehr die Schwächen des Gegners ausnützt, vielmehr hartnäckig an der einfachen Wahrheit arbeitet. Ein drittes Genre, neben Western und Kriminaldramen, in dem Stewart erfolgreich arbeitete, war die Film-Biographie. Er gab einer ansonsten eher mediokrenen Arbeit wie „The Glenn Miller Story“ (1954) innere Glaubwürdigkeit und spielte in Billy Wilders „The Spirit of St.Louis“ (Lindbergh: Mein Flug über den Ozean – 1957) den berühmten Flieger. Aber die Rekonstruktion des amerikanischen Archetyps hatte da schon etwas Bemühtes, und die Tragödie schien stets schon unabwendbar.
In den siebziger und achtziger Jahren war Stewart in späten Western und in Katastrophenfilmen in den üblichen Star-Ensembles zu sehen; eine amerikanische Ikone mittlerweile. Nun war es das würdevolle Ertragen einiger altersbedingter Beeinträchtigung, was uns den Kerl auf der Leinwand so verdammt nahe brachte. Jimmy, der Junge vom Land, war die Hoffnung auf die Erfüllung der amerikanischen Träume; James Stewart, der Mann, war der verzweifelte Kämpfer für die eigene Identität; Stewart, der Ältere, eine sanfte, melancholische Erinnerung daran, was aus diesem Land hätte werden sollen. Aber auch in seinem Leben blieb die Demontage der Ideale nicht aus: James Stewart war glühender Anhänger und Parteigänger der Republikaner und Freund Richard Nixons – bis Watergate. Sein Stiefsohn starb in Vietnam, in einem Krieg, den auch einer wie Jimmy Stewart nicht erklären konnte.
Text: Georg Seeßlen
Text erschienen in Tagesspiegel, 03.07.1997
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