Hulot, und wie er die Welt sah: mit einem Lächeln
Die Filme von Jacques Tati
Es gibt Hollywood und Europa, es gibt das Realistische und das Phantastische im Film, es gibt Slapstick und Romantik, es gibt das Altmodische und die neuen Wellen. Und es gibt Jacques Tati. Autor, Regisseur, Schauspieler, unermüdlicher Baumeister einer absurden und poetischen Architektur. Ein Komiker, der Generationen von Cineasten in Entzücken versetzt und der von Kindern so sehr geliebt wird wie von Künstlern und Philosophen. Jacques Tati hat, sagt der Regisseur Francois Truffaut, das Kino für sich selber einfach noch einmal neu erfunden. Seine Filme sind philosophisch, aber auf eine naive Art. Nein, Jacques Tatis Filme sind naiv, aber auf eine philosophische Art.
Ein Künstler wie Jaques Tati hat natürlich auch einen poetischen Familienroman. Sein Großvater, General Dimitri Tatischew, war der Gesandte des russischen Zaren in Paris, der andere Großvater war ein bekannter Rahmenmacher und Kunsthändler. Er stellte übrigens die Rahmen für einige Bilder von Vincent van Gogh her; reich dürfte er dabei nicht geworden sein. Aber nicht wie vorgesehen, der Kunsthandel, sondern der Sport zog den jungen Jacques magisch an. Kaum eine Sportart, die er nicht ausprobierte, vor allem aber war er Mitglied beim berühmten Fußballclub Racing Paris. Auf dem Fußballplatz begann er damit, seine Mitspieler – und die Gegner – mit komischen Einlagen zu erheitern, und bald machten die Minisketches am Rand die eigentliche Attraktion aus: Tatis Rugby-Parodie wurde bald so berühmt, dass der Theater-Autor Tristan Bernard auf ihn aufmerksam wurde und ihm Auftrittsmöglichkeiten in Revues und Cabarets verschaffte. So begann die Karriere eines ebenso poetischen wie akrobatischen Clowns, den die „Kinder des Olymp“ der Vorkriegszeit heiß und innig liebten.
Die Dichterin Colette schwärmte: „Seine Kunst umfasst Tanz, Sport, Satire und Flitter. In seinen Auftritten ist er der Fesselballon und sein Steuermann zugleich, der Boxer und sein Gegner, das Fahrrad und sein Fahrer“. Das Sportliche spielte auch in seinen ersten Filmen die Hauptrolle. Sein allererster, noch kurzer (und übrigens unvollendeter) Film, „Oscar, Champion de Tennis“ (1932) präsentiert ihn im komischsten Tennis-Match der Filmgeschichte. In „Komm mit der Linken“ (1936) gerät er in einen Boxkampf, und am Rande sieht man einen Briefträger, der mit seinem Fahrrad wahre Wunderdinge vollbringt. Dieser Briefträger taucht dann wieder auf in „L’Ecole des facteurs“ und schließlich in dem Film, der Jacques Tati weltberühmt machte: „Jour de Fete – Tatis Schützenfest“ (1947).
Es ist nicht nur die herrliche Groteske um einen Briefträger in der gemütlichen französischen Provinz, der bei einem Dorffest einen Film über die amerikanische Post sieht und nun, angesteckt vom Bazillus der Geschwindigkeit, seinen Mitbürgern die Briefe in so atemberaubendem Tempo zustellt, dass er einmal sogar die Rad-Champions der Tour de France überholt. Es ist das traumhafte Gefühl für Stimmung, Timing und Effekte, was Tatis Film so außergewöhnlich macht, und nicht zuletzt die ungeheure Sorgfalt, die er in jedes Detail legt. Deswegen werden in der Folgezeit auch stets etliche Jahre zwischen den einzelnen Werken von Jacques Tati vergehen. Tati baut sich für jeden Film eine ganze Welt, in jedem probiert er neue filmtechnische Möglichkeiten aus, bei jedem muss er Szenen so lange wiederholen, bis die Pointe auf den Punkt genau sitzt. Und jeder neue Tati-Film wird auch ein finanzielles Abenteuer – am Ende seines Lebens hat Jacques Tati den Kampf gegen die Widrigkeiten der Filmproduktionen, gegen die Banken und gegen die Rechtsanwälte beinahe verloren. Dass wir seinen letzten Film, „Traffic“, überhaupt sehen können, verdanken wir Tatis Freunden und Kollegen unter den Filmemachern, die ihren Freund und ihr Vorbild nicht im Stich ließen.
„Die Ferien des Monsieur Hulot“ (1953) zeigt Jacques Tati zum ersten Mal in der Rolle, die er ab da in allen seinen Filmen verkörpern wird. Den gutmütigen Monsieur Hulot, der mit beschwingten Schritten, im Regenmantel, Hut, mit dem Schirm und der Pfeife in einer Welt unterwegs ist, die ziemlich verrückt ist, aber auch nicht so verrückt, dass sie ihn wirklich aus der Ruhe bringen könnte. In „Die Ferien des Monsieur Hulot“ ist er Teil des Strandlebens, in „Mon Oncle“ (Mein Onkel – 1958) versucht seine Familie, ihm einen Posten in einer hochmodernen Firma zu besorgen, in „Play Time – Tatis Herrliche Zeiten“ (1967) wandert Monsieur Hulot durch seine Stadt, die von Massen von Touristen heimgesucht und in eine gläserne Wohn- und Konsummaschine verwandelt wird. Und in „Traffic“ (1971) ist Monsieur mit einem sehr menschenfreundlichen Automobil (inklusive im Lenkrad integrierter Senfspender für den Imbiss zwischendurch) unterwegs zu einer Automobilausstellung, findet unterwegs aber wesentlich angenehmere Orte.
Es ist nicht so, dass Jacques Tati oder eben Monsieur Hulot für sich besonders komisch wäre. Ein bisschen schlaksig gewiss, da bleibt man schon einmal mit dem Schirm hängen und macht beim Versuch, sich zu entschuldigen, alles noch schlimmer. Manchmal ist Hulot auch ein wenig zu neugierig, probiert hier einen Knopf zu viel aus, schaut dort einmal um die falsche Ecke. Auch einem Gläschen ist er nicht abgeneigt. Es ist auch nicht so, dass Hulot komische Situationen provozieren würde, dass er ein Problem mit seinen Mitmenschen hätte, das sich, wie bei Chaplin, bei Laurel & Hardy oder bei Jerry Lewis in komischen Attacken oder gar Verletzungen ausdrücken würde. Die Lust am Kaputtmachen ist bei Tati kein Motor des Komischen. Auch wird man bei ihm nie etwas Obszönes oder etwas Bösartiges finden. Nein, da ist einfach ein Mensch, der gar nichts besonderes tun muss, und um ihn herum wird ganz einfach die ganze Welt auf eine sehr sanfte, aber zwingende Weise komisch. Zeit dehnt sich auf komische Weise, wenn jemand mit klackernden Sohlen einen endlosen Gang entlanggeht und anscheinend nicht näher kommt. Sprache wird zur komischen Poesie – in „Playtime“ und „Traffic“ gehen die Sprachen französisch, deutsch und englisch durcheinander, und doch versteht man das Groteske der Situationen perfekt. Häuser verwandeln sich in Labyrinthe
und Gefängnisse, Autos haben Scheibenwischer, die präzis das Temperament ihrer Lenker verraten. Vollautomatische Gärten mit Springbrunnen in Fischform und Fabriken, in denen sich Schläuche und Schreibtischanlagen selbstständig machen, Automobile, die mit auf- und zuklappenden Fronthauben hinter ihren verlorenen Reifen herfahren: Tati macht sich in seinen Filmen lustig über die technischen Neuerungen und den Kult, der um sie getrieben wird. Aber er liebt auch alle verrückten und sogar die vernünftigen Erfindungen. Wenn Tati in seinen Filmen etwas übertreibt, dann höchstens die philosophische Gelassenheit, mit der er auf all die Kuriositäten seiner Umwelt reagiert.
Von Film zu Film tritt Monsieur Hulot selber mehr in den Hintergrund. Er ist schließlich nur noch stoischer Beobachter, vielleicht der einzige Normale unter mehr oder weniger Verrückten. „Ich will mit meinen Filmen nicht die Welt verändern“, hat Jacques Tati zu „Traffic“ gesagt. „Wenn bei der Heimfahrt vom Kino auch nur ein einziger, der an einer roten Ampel halten muss, lächelt, anstatt sich zu ärgern, dann bin ich zufrieden“. Eine solche Wirkung haben Tati-Filme noch heute, man kann es mit der neuen DVD-Collection selber ausprobieren. Der große Regisseur Francois Truffaut hat einmal von seinem Traum erzählt. Ein sehr einfacher, sehr glücklicher Traum: Mitten unter den Leuten, die auf eine verspätete Metro warteten, aufgeregt die einen, mürrisch mit sich selbst beschäftigt die anderen, erblickt er plötzlich den langen Kerl mit dem Regenmantel, dem Schirm und der Pfeife. Und auf allen Gesichtern zeigt sich ein Lächeln.
Jacques Tati ist tot. Aber Monsieur Hulot wird für immer unter uns sein.
Autor: Georg Seeßlen
Text: veröffentlicht in FILMSPIEGEL
Bild: Ufa
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