Brüder und Wolfsmenschen
Aber freilich! Filmgeschichte, das ist vor allem die Geschichte der Verwandlung von Technik, Macht und Geld in dynamische Zeichen und künstliche Träume. Weshalb Filmkritikerinnen und Filmkritiker auch gefälligst Gesellschaftskritiker und Pop-Semiologen zu sein haben. Aber manchmal, in raren, glücklichen Momenten der Begegnung werden wir daran erinnert, dass Filmgeschichte noch etwas ganz anderes ist: eine Sammlung von Menschengeschichten.
Curt Siodmak sitzt an einem auch meteorologisch gutmeinenden Apriltag in seinem 94. Lebensjahr im Kino des Münchner Filmmuseums, wo man eine Retrospektive seiner und der Filme veranstaltet, die nach seinen Büchern entstanden, und läßt sich bereitwillig noch einmal Fragen zu Leben und Werk stellen. Er freut sich über die Anteilnahme, die er hier erfährt, er, der in Deutschland wie nach seiner Flucht in die USA immer im Schatten seines Bruders Robert stand, dessen größte literarische Erfolge, von „F.P.1 antwortet nicht“ bis „Donovan’s Brain“, aus dem hierzulande wenig geachteten Genre der Science-fiction stammen und der als Drehbuchautor an Filmen wie „The Beast With Five Fingers“ und „Frankenstein Meets the Wolf Man“ beteiligt war, die vielleicht den aficionados des phantastischen Film s als Meisterwerke des B-Films bekannt sind, bei denen man aber doch ein wenig genauer hinsehen muß, um in ihnen Handschrift und magische Biographie eines jüdischen deutschen Intellektuellen in der Kinomaschine von Hollywood zu erkennen.
Die „blödsinnigen“ Titel, betont Curt Siodmak, stammen nicht von ihm, und um die filmische Realisation seiner Drehbücher hat er sich nie sonderlich viel gekümmert, nicht bloß, weil das Hollywood der vierziger und fünfziger Jahre dem Autor sowieso kaum Rechte an seinen Stoffen einräumte. „Was zählt“, sagt Curt Siodmak, „ist die Idee.“ Und so hat er auch die Regie, bei Filmen wie „Bride of the Gorilla“ (1951) oder „Curucu, Beast of the Amazon“ (1956), aus keinem anderen Grund denn aus „reinem Trotz“ gegenüber dem gefeierten Bruder übernommen.
In Wahrheit aber war Curt Siodmak stets ein Literat, ein „Plot-Konstrukteur“, ein Erzähler, der zum Beispiel die populäre Form des „utopischen Romans“ verwandte, um den technischen Fortschritt in der ihm eigenen Mischung aus Begeisterung und Skepsis zur Diskussion zu stellen.
Hätte sich je in Deutschland eine eigenständige, aber nicht nationalistische, eine publikumsorientierte, aber nicht korrupte populäre Kultur bilden können, der Ufa-Drehbuchautor und Verfasser von phantastischen Erzählungen und Kriminalromanen wie „Der Schuß im Tonfilm-Atelier“, Curt Siodmak, wäre gewiß einer ihrer „Väter“ gewesen. Es kam, wie wir wissen, ganz anders.
Curt Siodmak erzählt, philosophiert, bewertet sein Leben an diesem sonnigen Aprilnachmittag, das Exemplarische und das Einzigartige darin. Er ist auch dabei ganz Literat, weshalb es verständlich ist, dass so vieles, was sich als Antwort auf eine Frage verkleidet, eine freie Wiedergabe von Abschnitten aus dem ersten Band seiner Autobiographie „Unter Wolfsmenschen“ ist, die gerade erschienen ist. Das macht nichts, denn erstens ist dieses Buch eine der bewegendsten Lebensgeschichten, die ich in letzter Zeit gelesen habe (und um wie vieles ehrlicher, genauer und direkter als die Biographie des Bruders, dieses „Schwindlers“, der sich nicht einmal scheute, aus dem Leben des anderen abzuschreiben, um seinen Geltungsdrang zu befriedigen), und zweitens und vor allem kommt es beim Erzählen stets noch auf die Nuancen, die Tonfälle an.
Und Curt Siodmak erzählt in seinem nur leicht amerikanisch abgemilderten Dresdener Idiom die Geschichte eines Lebens, dessen äußerer Erfolg mit dem inneren Unglück so verwoben ist, das vom Verlust vorangetrieben ist. Davon, dass nichts zusammenpasst, dass immer das Bestialische aus dem Biederen tritt, dass Hass und Liebe so eng miteinander verbunden sind, dass ein Werk, das man beginnt, einem aus der Hand genommen wird, dass schließlich nirgends auf Erden der Ort wirklicher Geborgenheit gefunden werden kann, davon handeln Siodmaks Bücher und seine Film-Skripts.
Aufgewachsen ist Curt Siodmak in einer „viktorianischen“ jüdischen Familie in Deutschland, deren ökonomische, moralische und erotische Probleme für die Produktion eines Dutzends von Kranken- und Künstlerbiographien ausgereicht hätten. „Keiner meiner Eltern hat je eines der Kinder in den Arm genommen.“ In dieser Familie, die gleichsam in permanentem Zusammenbruch befindlich war, entwickelte sich zum älteren Bruder eine Haßliebe, die Zeit ihres Lebens anhielt. Robert kompensierte seine familiären Defizite mit einer bisweilen rücksichtslosen Egomanie, und Curt, der ihn bewunderte, liebte, hasste und fürchtete, scheint immer wieder verraten und geopfert worden zu sein.
Schon bei der ersten Zusammenarbeit, bei dem berühmten Film „Menschen am Sonntag“, an dem noch Billy Wilder, Fred Zinnemann und Edgar Ulmer beteiligt waren, wurde Curt Siodmaks Beitrag – die „Idee“ zur Grundkonstellation des ganzen Projekts – beinahe unterschlagen.
„Mein Bruder meinte, mehr als einmal sollte es den Namen Siodmak auf der Leinwand nicht geben.“ Manchmal bricht der Zorn auf den Bruder noch auf, Kain und Abel im Showbusiness, aber mittlerweile obsiegt eher das Mitleid. Vielleicht war dieser Bruder ja, seiner Unverschämtheit zum Trotz, noch schlimmer von der „Siodmak-Krankheit“ befallen?
Als sich Curt Siodmak nach dem endgültigen Zerwürfnis mit der Familie und einigen heftigen Hungerjahren als erfolgreicher Autor zu etablieren begann, setzten die Faschisten seiner Karriere ein abruptes Ende. Die Tragödie seines Lebens ist es, daß er für eine Identität verfolgt wird, die ihm zuvor vorenthalten wurde.
Curt Siodmak hat sein Judentum nie als kulturelle oder familiäre, schon gar nicht als religiöse Geborgenheit erfahren. Demütigungen, Gewalt und die Umstände einer Flucht, bei der dem Tod nur um Haaresbreite zu entgehen war (genauer gesagt: um die Bereicherungsgier eines deutschen Gestapo-Mannes, der noch kurz zuvor um seine Freundschaft buhlte), erlebt er vielleicht daher auf eine besonders materielle und besonders persönliche Art. Wenn Curt Siodmak vom Antisemitismus spricht, dann vor allem in Form schmerzhaft genauer Portraits antisemitischer Menschen, die ihn in die Jahre des Exils, in die Schweiz, nach England und schließlich sogar in die USA verfolgen.
Noch heute erzählt und schreibt Curt Siodmak vor allem aus „therapeutischen Gründen“, ist jeder Tag ein Kampf gegen die Depression, dessen Chancen sich nicht eben verbessern, wenn zum Beispiel der Besitzer des Drugstores im kalifornischen Three Rivers, bei dem die Familie Siodmak seit Jahren ihre Einkäufe tätigt, antisemitische Witze zum besten gibt. Daß das jemals „vorbei“ sein könnte, dieser Illusion gibt sich Curt Siodmak nicht hin.
Allerdings kann er nun auf die phantastischen Verkleidungen verzichten, die Wolfsmenschen beim Namen nennen. Die historische legt sich über die magische Biographie. In seinen Filmen und Romanen spuken nicht nur die seltsamen Familiengeschichten, die Rivalität der Brüder etwa in „I Walked With a Zombie“ oder die sadistische Gewalt des Vaters gegenüber dem Sohn in „The Wolfman“, sondern auch die der faschistischen Verfolgung, die „dem Juden“ nicht nur Körper und Seele zerstörte, sondern ihm vor allem die menschliche Integrität raubte, die Person vernichten wollte. Immer geht es da um „etwas“, das gestorben ist, auch wenn die Menschen noch leben. Er habe nie, so Curt Siodmak, in seinen Büchern und Filmen „politische“ Probleme behandeln wollen. Die „Idee“ ist für ihn absolut und spontan, das Schreiben dann ihre handwerkliche Erfüllung – und das Filmen allenfalls noch eine technische Umsetzung.
Nur auf den ersten Blick erscheint es merkwürdig, dass eine solch europäische Vorstellung vom Primat des Literarischen sich ausgerechnet in den wüsten Bildwelten des amerikanischen B-Films von Horror und Science-fiction durchsetzen ließ. Wenn man indes die Filme heute noch einmal ansieht, versteht man, warum: Während der A-Film mit seiner Dekoration, seinen Stars, seiner Psychologie, seiner Technik versucht, sich ganz auf der Höhe seiner Zeit zu bewegen (und entsprechenden Alterungsprozessen unterworfen ist), vertraut der B-Film ganz auf die Qualität seiner Idee (und – da wäre Curt Siodmak vielleicht doch ein wenig zu widersprechen -: auf die Kompetenz einer verdichtenden statt ausschweifenden Inszenierung).
B-Filme kann man entweder gleich wegwerfen, oder sie bekommen einen seltsamen zeitlosen Glanz, eine Form der Abstraktion. Das ist bei den meisten Filmen der Fall, an denen Curt Siodmak beteiligt war. Sie haben keine Botschaft und keinen Anspruch auf „Realismus“.
Sie haben Ideen, und sie sind perfekt konstruiert. Aber zugleich sind sie noch etwas ganz anderes, Teile der magischen Biographie des Curt Siodmak, die davon handelt, wie man einen unglücklichen Familienroman und die organisierte Jagd auf das eigene Leben überlebt.
Ohne Gottes Hilfe.
Um eine Widmung gebeten, hat Curt Siodmak dann noch etwas in mein Exemplar von „Unter Wolfsmenschen“ geschrieben: vom „understanding of our schizophrenic Zeit“.
Autor: Georg Seesslen
Text veröffentlicht in DIE ZEIT 03.05.1996 Nr. 19
- MISCHPOKE II - 4. März 2024
- Bruno Jasieński: Die Nase - 27. Juli 2021
- Manifest für ein Kino nach Corona | Brauchen wir andere Filme? - 27. Juli 2021
Schreibe einen Kommentar