Heinz Rühmann und unsere Kultur der Selbst-Rühmannisierung: Zum 100. Geburtstag des Schauspielers, der sich erlaubte, Kind zu bleiben

 

Das Traumreich des deutschen Films ist ein seltsamer Ort: ein Ritornell des alten Glücks, eine ewige Provinz der Unschuld, in der ein kleiner Mann sich herumtreibt, schlendernd wie ein Lausbub und mit einem Lächeln, das man „verschmitzt“ nennt. Heinz Rühmann prägt unsere populäre Mythologie noch heute. Rühmann ist die Verkörperung der deutschen Strategie, sich vor den Anforderungen der Wirklichkeit, vor den Widrigkeiten von Macht und Ausbeutung wie vor gefährlicher Lust und anstrengendem Glück klein zu machen. In Krisen wird bei uns rühmannisiert, wie anderswo schwejkisiert oder donquijotisiert wird oder die militante Provinz von Asterix auftaucht, wenn die Sache schwierig wird.

Michael Verhoeven hat in den siebziger Jahren mit Gefundenes Fressen schon den Rühmann-Film für die nächste Generation gedreht: Rühmann als Penner, der sich nicht einmal den Lebenstraum erfüllen kann, der erfüllbar wäre: einmal nach Mallorca zu fliegen. Der Augenblick, da er, seinen typischen Blick des Gequälten der Kamera bietend, darauf verzichtet, ins Flugzeug zu steigen, offenbart das innere Wesen dieses Mythos: das Opfer, das niemandem nützt außer der Selbstvergewisserung eines Menschen, der vor der Welt erschrickt.

Wenn wir an Jean Gabin als glücklichen Clochard denken, der den Sommer an der Riviera zu verbringen pflegt, haben wir eine Ahnung davon, was die eine und die andere Kultur voneinander unterscheidet. Übrigens hat Elke Heidenreich das Drehbuch zu diesem Film (mit)geschrieben, auch sie als Schriftstellerin wie die meisten erfolgreichen deutschen Unterhaltungsautoren der vergangenen Jahrzehnte eine maßvoll moderne Rühmannisiererin.

Wie bei jedem Komiker stammte die Leinwandpräsenz von Heinz Rühmann aus einer tiefen Verletzung. Das dramatisch begabte Kind eines Hoteliers in Essen, der kleine Clown in einer Runde von Trunkenbolden, der sich nur geliebt fühlen konnte, wenn man über ihn lachte, erlebte das radikale Scheitern einer Bürgerfamilie in der Vorzeit des deutschen Faschismus: wirtschaftlichen Ruin, Selbstmord des Vaters. Es ist die Erfahrung einer Kulturkrise, der man nur im Mythos entkommt. Schauspieler wird Heinz Rühmann mitten in der Not, und zwar einer, mit dem man zunächst nicht viel anfangen kann. Er fällt aus der Rolle, er hat keine Ahnung, was Stück, Regie und Publikum von ihm erwarten. Er will nur etwas spielen, was ihn von sich selbst entfernt und zu sich selbst bringt.

Der Blues des Kleinbürgers

So einer muss Komiker werden. Sein Publikum erreicht er, als er akzeptiert, „falsch“ zu spielen, als ginge ihn alles tatsächlich gar nichts an, als spiele er nicht, sondern sei etwas, jedenfalls keine Frage des Zusammenhangs.

So bekommt er in den traditionellen Dienerrollen des Boulevards den ersten Szenenapplaus, nicht weil er das Stück vorantreibt oder kommentiert, sondern weil er seine eigene Liebesgeschichte mit dem Publikum beginnt. Und so entdeckt ihn die Kamera. Es ist ein falscher Körper am falschen Ort. Und die richtige Seele am richtigen Ort, meistens jedenfalls. Sein Körper ist das Instrument, auf dem er spielt, in einem Repertoire von zuletzt rund 100 Filmen, in denen immer wieder aus der magischen Biografie eines deutschen Lebens ein Mythos des Deutschseins entsteht.

Vom Widerspruch zwischen Begehren und Verbergen spricht schon das Technische dieses Schauspielers. Da ist die eigenwillige Weise seiner Sprechmusik. Auf gleicher Höhe setzt sich bei ihm Wortklang dort fort, wo sich die Stimme bei einem anderen gesenkt hätte oder verstummt wäre. Sie wird ihr eigenes Echo, ein bisschen trotzig, komisch, traurig. So entsteht der Blues vom Schmerz des deutschen Kleinbürgers. Nur allzu häufig mündete diese Melodie, wenn der kleine Mann von irgendwoher Autorität entwickelt, in einen gefährlich schnarrenden, selbstgerechten Befehls- oder Predigtton, der nicht besser wird dadurch, dass sich das Flehen um Zuneigung auch hier noch verbirgt.

Zur Sprachmelodie kommt die Bewegungsmelodie, in der sich Erwachsenes und Kindliches, Anrührendes und Anzügliches mischen, jenes Schlenkern und Schlendern, das seine Poesie gerade aus den Bewegungen gewinnt, die überflüssig erscheinen. Dieses Schlendern ist möglicherweise ein Ersatz für das Tanzen, das dieser Kindmann nicht nur nicht kann. Er darf es nicht.

Dieses Schlendern führt nicht zur freien Bewegung. Dieser Kindmann findet immer sein Ziel, um die verlorene Ordnung und Disziplin wiederherzustellen.

Wie schnell sich das spielende Kind in den hierarchischen Mann verwandelt, wie sehr die Lust der Verschmelzung in die Restauration des Patriarchen kippt! Quax der Bruchpilot und Quax in Afrika sind moralische Katastrophen, sowohl was die politische Metaphorik als auch was die magische Biografie des kleinen Mannes anbelangt.

Aber die Spuren dieser moralischen Katastrophe reichen tiefer, und noch in seinen letzten Filmen der Käutner-/Kurt-Goetz-Art müssen wir argwöhnen, dass es immer auch die Möglichkeit des falschen Spiels, der Verstellung gab. Das spielende Kind, der Mann, der sich förmlich in der Frau verkriechen möchte, und der selbstgerechte Spießer – wie sollten sie in einem Körper miteinander auskommen, wenn nicht durch den Sieg der „Disziplin“? Steckt darin schon das deutsche Dilemma des Heinz Rühmann?

In dem merkwürdigen Kultfilm Die Feuerzangenbowle, gedreht ein Jahr nach Stalingrad, zum Zeitpunkt, da Niederlage und Untergang nicht nur des „Dritten Reiches“ sich abzeichnen, sondern auch dieses alten Kleinbürgertums, das sich in ihm zu retten versuchte, macht Rühmann das Kindwerden zum Thema. Radikaler konnten die Aspekte des Autobiografischen und des Metaphorischen nicht zu einem allseitigen Trostangebot verbunden werden. Noch einmal wies Heinz im Glück den Weg zur Regression, denn dieser Pfeiffer mit drei f ist ja einer, dem „das schönste Stück Jugend fehlt“, wie dem kleinen Mann sowieso, aber auch den Menschen überhaupt in diesem Krieg.

Dieses Motiv, bei genauerem Hinsehen ein durchgehendes in Rühmanns Filmen, zeigt die andere Seite der Bescheidung aufs kleine Glück, nämlich die Angst, „nicht gelebt zu haben“. Es ist der Schmerzensschrei des Schusters im Hauptmann von Köpenick es ist die Frage, die Pater Brown an die zu Errettenden und die zu Überführenden richtet es ist das Spiel noch in Hokuspokus und schon in Die Drei von der Tankstelle: Alle Inszenierung, alles schlendernde Kreisen um das mysteriöse Zentrum dient dem Zweck, ein verlorenes Stück Leben zugleich nachzuholen und zu verbannen.

So formt sich aus dem komischen Körper und dem Repertoire der Typenkomödie ein deutsches Bild: der „kleine Mann“, als familiäre, als soziale, als philosophische und als sexuelle Metapher. Der Mythos übersteht, wenn auch mit signifikanten Wandlungen, alle historischen Brüche. In den Jahren des Wiederaufbaus spielt Rühmann eine Figur, die dem Kind neue Würde gibt, indem es die Welt der Erwachsenen verdammt. Als Hauptmann von Köpenick oder als Schwejk, selbst noch in Mein Schulfreund ist er ein zutiefst beleidigtes Kind, dem man die falsche Welt vorgemacht hat. Auf der Suche nach den verlorenen Wünschen musste Heinz Rühmann wenigstens zu unserem Beschützer werden. Ich gestehe, dass ich in jenen Jahren das Böse (im Kino) an der Seite von Heinz Rühmann kennen gelernt habe. Als Mordkomplotte in den Pater Brown-Filmen, als Müllhaldenkriminalität in Der Pauker oder dann, am furchtbarsten, als Erscheinung des gequälten Kindermörders in Es geschah am helllichten Tag. Ohne Heinz Rühmann hätte ich so etwas nie sehen dürfen. Er war nicht nur der kleine Mann, der zum Helden werden musste, um solche fundamentalen Bedrohungen abzuwenden. Er war auch der kleine Mann, der unsere Empörung teilte, unsere Untröstlichkeit. Daher wiederum wollte man auch ihm helfen, da oben auf der Leinwand. Das Gefühl der Verbundenheit zwischen dem Star und dem Publikum ist schön, wo es auf dieser Zärtlichkeit beruht, und wird gelegentlich hässlich, wo es einer gemeinsamen Inszenierung des Selbstmitleides dient. Denn natürlich kann einer, der immer die Unschuld spielt, selbst nie unschuldig bleiben. Seine Unschuld dient immer der anderen Seite, der Schuld produzierenden Macht, der Schuld produzierenden Geschichte, der Schuld produzierenden Klasse der kleinen Männer und Frauen, die, wie er, ein Stück vom Leben haben wollen und ihren Preis dafür bezahlen müssen. Die Frage ist nur: Was weiß der kleine Mann davon, und teilt er uns etwas von seinem Wissen mit, wenn wir ihn nur genauer ansehen?

Sexualität will man es nicht gerade nennen, was dieser charmante Kindmann ausdrückt, aber doch eine fast vollendete Form der Verführung. Verführung wozu? In einem simplen psychologischen Modell ist es der Kindmann, der von einer „Mutter“ adoptiert werden will, nachdem er rivalisierende Väter ausgetrickst hat. Frauen sind niemals komisch in der Welt von Heinz Rühmann, wie noch bei Charlie Chaplin oder den Marx Brothers, wo die komische Regression auch die Grenze der Geschlechter überspringt. Selbst als Charleys Tante ist Rühmann nicht tuntig

selten wirkte er so entspannt und glücklich wie in dem Moment, wo der kleine Mann seine eigene Mutter geworden ist. Vier Jahre später wird Norman Bates zeigen, wie tödlich solche Symbiose verlaufen kann.

Der Traum von großen Sünden

In seinen frühen Filmen ist Heinz Rühmann der kleine Mann, der auf dem Weg in die Welt ist, und er geht wirklich allein. Das ist das Heroische in ihm. Es ist immer ein bisschen zu viel Raum um ihn, eine kleine Drohung der Leere. In den Filmen der Kriegszeit ändert sich die Bewegungsrichtung. Der kleine Mann wird von einem magischen Zentrum zurückgezogen. Er träumt von großen Sünden, kommt, wie in Fünf Millionen suchen einen Erben (1938), gar an der Seite einer falschen Frau ins sündige Amerika, um dann doch zur richtigen Frau ins richtige (deutsche) Leben zurückzukehren. Alle Rühmann-Filme handeln vom Begehren, das sich selbst zur Ordnung ruft.

Noch einmal verändert sich die Bewegungsachse in den Nachkriegsjahren: Er strebt, nun kaum noch schlendernd, in Richtung des Publikums, so als wollte er, wie zu Beginn seiner Karriere, aus der Rolle fallen und uns ganz direkt etwas sagen. Der deutsche Kleinbürgerblues bekommt einen Hang zum Moralisieren, den wir in seinen Filmen immer fürchten müssen. Er will aber nur etwas übertönen: das verborgene Andere dieser gütigen Bescheidenheit. Das nicht gelebte Leben.

Unsere Kultur neigt zur Selbst-Rühmannisierung. Psychohistoriker späterer Zeit werden herausfinden, wie sich die deutsche Spaßkultur vom 11. September befreite. Am Fernsehprogramm der Zeit werden wir sehen, wie die Serien wucherten, die nicht nur das sich selbst zur Ordnung rufende Begehren, sondern auch jene Mischung aus Selbstbeschränkung und Selbstmitleid des Rühmann-Mythos mit neuen Rollen wiedergeben. Wenn uns die Welt zu groß wird, dann versuchen wir, was uns Rühmann vorgemacht hat: blind zu werden in der moralischen Pose. Unauffällig nach Hause zu schlendern. Aber wo ist zu Hause, Mama? Auch die neo-rühmannistische Biederkeit unserer Popkultur weiß darauf keine Antwort. Daher schlendert Heinz Rühmann, wo wir ihn gerade selbst wieder auf unseren Bildschirmen zu sehen bekommen, so auffällig ins Leere.

Was weiß er, und was wusste er, will man ihn fragen. Von Deutschland damals und von Deutschland heute. Falsche Frage. Ein Mythos ist vielleicht klüger als ein Diskurs. Aber bestimmt nicht ehrlicher.

Autor: Georg Seesslen

Text veröffentlicht in DIE ZEIT, 07.03.2002 Nr. 11