Im toten Winkel unserer selbst
Manische Introspektion
Seinerzeit, es muss zu Beginn der siebziger Jahre gewesen sein, veröffentlichte Der Spiegel eine Geschichte, mit der der Zeichner Horst Janssen zum mehr oder weniger launigen Sonderling des Kunstbetriebs gekürt und für den Mainstream der Kunstinteressierten kompatibel gemacht wurde, eine Künstler-Gestalt, wie man sie zu dieser Zeit selten hatte, trunken, egoman, von Eros und Tod besessen, nachlässig gekleidet und die Welt ringsum verachtend, romantisch auf seine Schöpfung fixiert. Man hätte ihn erfinden müssen!
Aber dass da so genüsslich und einmal mehr höchst irreführend ein altmodisches Künstler-Bild entworfen wurde, inmitten der Politisierung, der Ironisierung und der Radikalisierung entgrenzter Bildwelten, in der Selbstreflexion des ästhetischen Prozesses und vor der Verwandlung der Moderne in die Postmoderne, eine Volte zurück, zweifellos, das konnte nicht über etwas hinwegtäuschen, was an jedem Strich dieses Mannes abzulesen war: Ein zeichnerisches Talent, das einen mit einer Feder und einem Stück Papier ungefähr da berühren konnte, wo Franzl Schuberts oder Captain Beefhearts Musik gerade noch Halt gemacht hatten. Mein Gott, was für ein begabter Hund! Konnte er denn ums Verrecken kein zeitgemäßes Sujet, keine „progressiveren“ Begleitideen zum Denken in Strichen, kein weniger reaktionäres Image finden?
Janssen wurde zum Star für ein Bürgertum, das mit den neuen Entwicklungen der ästhetischen Produktion ganz und gar nicht zurecht gekommen war. Hier lobte man sich endlich wieder das „Genie“, das man sich als enfant terrible oder Kunst-Clown gerade in einer Stadt wie Hamburg gerne hielt, und dessen Produkte wieder altmeisterlich autonom waren und entsprechend, wie sagt man: den Besitzer wechseln konnten. Janssen spielte diese Rolle offenbar nur allzu gern, für die Einsamkeit am Zeichentisch entschädigte er sich immer einmal wieder als sarkastischer Erzähler und Entertainer; dafür konnte er in Ruhe arbeiten und versorgte nebenbei das gespannte Publikum mit biografischem Material: Hier ein erotischer oder familiärer Skandal, dort eine beleidigende Äußerung und schließlich jener Balkonsturz, durch den der Meister beinahe erblindete, der sich noch einmal in einem betörend persönlichen und doch offenen Schaffensteil ausdrückte. Man konnte da immer einem Menschen nicht bloß beim Philosophieren mit Zeichenstift und Feder, sondern auch beim Leben zuschauen.
In seiner Werkgeschichte könnte man den Vorgang der Abstraktion gleichsam umdrehen. So wie die modernen Künstler sich vom Sujet immer mehr entfernen mussten (um das Malerische zu retten) bewegte sich Janssen von surrealistischen und beinahe gegenstandslosen Anfängen zum Sujet hin, wenn auch nicht zum allgemeinen, sondern zum höchsteigenen (um das Zeichnerische zu retten). Die Beziehung zwischen Sujet und Bild freilich ist ausgesprochen frivol; der Gegenstand, das Bild und der Anlass (angesprochen etwa durch die Titel der Zeichnungen wie Wieder Krach mit Hegewisch zu einem Selbstporträt oder Ängstlicher Tag zu einem verwelkenden Blumenstrauß) bilden ein offenes System, was im Übrigen ein wenig an die Arbeit eines der frühen Leitbilder, Paul Klee, erinnert. Janssen hat sich dem Gegenstand, dem Menschen, der mehr oder weniger toten Natur, der Landschaft wieder angenähert, ohne sich ihm zu unterwerfen. Aber was noch wichtiger war und schwierig in seiner Zeit: Für ihn war der Künstler zuerst wieder einer, der sieht. So konnte man sich mit ihm auf den Rückweg machen zu einer Welt, die in der Kunst für das Auge gerade verloren zu gehen drohte.
Das ist die eine Geschichte, und man kann sie goutieren als kleines Seitenstück in der schwierigen Konstruktion von Ästhetik, Aufklärung und Gesellschaft, der ja in der Tat von Zeit zu Zeit ein „back to the roots“ nicht ungut tun mag. Eine andere Geschichte, indirekt natürlich mit dieser verbunden, mag von einer Errettung des Zeichnerischen handeln. Und vielleicht von der Errettung des artistischen Subjekts.
Das Zeichnerische ist in der Bildenden Kunst, so seltsam das klingen mag, immer noch die Körperlichste aller Ausdrucksformen. Selbst ein Happening, eine Materialaktion meinethalben, hebt spätestens die Körperlichkeit im Medium ihrer Archivierung auf, verrät sich aber wohl schon vorher an Plan und Absicht. Zeichnend setzt der Mensch eine Wahrnehmung (oder eine Idee) in einen körperlichen Impuls um, und während das Malerische die Welt im Raum bedeckt, muss das Zeichnerische sie in der Zeit durchdringen. Wenn das Malerische die Kunst der ausdrucksstarken Oberfläche, der endlosen Ver- und Entschleierung der Welt ist, dann ist das Zeichnerische das Durchdringen der Oberfläche, der Strich die gezielte Verletzung, die direkteste Übersetzung des Körperlichen vom Blick in die Hand. Was man übrigens bei den Arbeiten von Horst Janssen sehr genau sehen kann: Wie falsch die Vorstellung ist, dass sich das Zeichnerische problemlos in die Druckgrafik übersetzen ließe. Und auch Farbe scheint hier, wo sie als listiges Aperçu auftaucht, gänzlich fehl am Platz, eine falsche Besänftigung. Das Zeichnerische wurde Janssen auch wieder zur Falle, und schon die Fotografie, dann die Collagen und die Druckgrafiken, wurden ihm im besten Fall wohlwollend wegignoriert.
Das Zeichnerische kommt bei Horst Janssen in dem Maße zu seinem Recht, in dem es die Krise des Sujets akzeptiert. Da ist, natürlich (und es war genügend Motiv in den biografischen Splittern), immer wieder das eigene Gesicht, in endlosen Variationen. Man hat immer wieder von einer „zeichnerischen Selbsterforschung“ gesprochen. Aber um dem zu widersprechen muss man entweder etwas genauer hinschauen oder einfach Janssens eigene Äußerungen zu seiner Technik und zu seinen Sujets studieren: Er benutzte, unterstützt durch seine „komödiantische Veranlagung“ (Janssen), das Selbstportrait wie eine wandelbare Maske, wie ein Regisseur den Schauspieler, der ihm am vertrautesten ist. Daher gibt es auch kaum biografische Konsistenz; ein heiteres und ein tristes, ein lebensfrohes und ein todessüchtiges, ein altes und ein junges „Selbst“ konnten innerhalb kurzer Arbeitsabschnitte entstehen. Dieses „Selbst“ ist eher Spiel als Portrait, was nicht heißen soll, dass es nicht von schneidender Genauigkeit wäre. Es ist viel mehr als Selbstvergewisserung der Impuls, in das Leben einzudringen, das nach Janssens Aussage „im toten Winkel unserer selbst“ nur stattfinden kann, und wenn er behauptet, es entwickele „allein der Spiegel der Gesellschaft uns ein Bild dessen, was wir unsere Individualität zu nennen uns angewöhnt haben“ so wird auch die politische Metaphorik dieser manischen Introspektion deutlich: Das zeichnerische Subjekt verbündet sich mit der Natur und ihrem endlosen Formenreichtum gegen die Identifikation der Gesellschaft. Das ist eher anti-politisch als unpolitisch. In Horst Janssens Werk gibt es nur die Dinge an sich, und keine Beziehungen zwischen ihnen. Die Zeit steckt nicht als „Geschichte“ zwischen ihnen, sie ereignet sich vielmehr, Henri Bergson hätte vermutlich seine Freude daran gehabt, in ihnen selbst. Sie vergehen, sie sind ihre eigene Erinnerung, sie sind immer auch wann anders.
Das Interesse des Künstlers liegt, meiner Empfindung nach (man kann sich ja von halbwegs offenen Federführungen durchaus rasch ins eigene Gedankenlabyrinth bringen lassen) noch eine Ebene unterhalb des Sujets, in den Äußerungen des Lebens selber, im Körperlichen, im Zeichnerischen der Welt überhaupt. Horst Janssens Zeichnungen bilden nicht ab, sondern setzen es fort, reduzieren und skelettieren es, und alles, was auf seinen Bildern geschieht, geschieht im Zustand der Transformation, in Zuständen von Vereinigung und Verderben. Sexualität und Tod sind dafür nur die größten mythischen Begriffe (und die naheliegendsten Bild-Elemente). Daher wird, jenseits des Sujets, in seinen Zeichnungen Zeit sichtbar. „Wie schön, dass es keine eine Wirklichkeit gibt, dass aber alle Wirklichkeiten im jeweiligen Moment wie eine einzige Immerwirklichkeit aussehen“ (Janssen): Das Altmeisterliche ist eine Finte, denn es geht nicht um das „Festhalten eines Augenblicks“, sondern vielmehr darum, gerade die Bewegung zu erhalten. Das ist auch in Janssens fotografischer Arbeit zu studieren, die sich zum Zeichnerischen nie als Vorher oder Nachher sondern als Währenddessen und Sowohl-als-auch, eben als eine andere Art zu sehen, entwickelte. Die Genauigkeit richtet sich auf den Prozess der Veränderung. Dass ein Ding (oder ein Mensch) Teil mehrerer Wirklichkeiten ist, das ist bei Janssen das eigentliche Sujet.
Überraschend kommt die Tugend des Zeichnerischen bei Janssen in jenen Arbeiten zum Ausdruck, die sich direkt an große Vorbilder anlehnen, die vorhandene Sujets mit dem eigenen Strich, der eigenen Körperlichkeit füllen, nach Velazquez oder Utamaro, nach Gavarni oder Hokusai. Kaum sonst, außer vielleicht bei den Zeichnungen der kleinen lebenden und verderbenden organischen (oder sich immerhin organisch verändernden und verbindenden) Dinge, die er in seinem Garten fotografiert und gezeichnet hat, oder bei den Baumlandschaften vom Elbe-Strand, ist die Offenheit des zeichnerischen Prozesses so deutlich, der sich vom Gegenstand weg wie zu ihm hin bewegen kann. Man erkennt sofort einen Janssen- Strich (einschließlich gewisser unabwendbarer, „obszöner“ Haken), und doch weiß man nie genau, wo einen diese Striche hinführen. Die Porträts von Tolstoi, Jean Paul oder E.T.A. Hoffmann vermitteln vielleicht gerade deswegen so viel bei diesem Künstler nicht erwartete naive Zärtlichkeit, weil sie die vorhandenen Porträts behandeln wie den Gegenstand, den man durch das Zeichnerische aus einer Erstarrung befreien kann. Das Zeichnerische ist hier eine Art der radikalen Verweigerung, zum Zeichen zu werden (und das eben in einer Zeit, in der sich die Kunst um kaum etwas anderes als um Zeichen zu kümmern schien). Ob es vor Janssen einen „Verlust des Zeichnerischen“ in der Kunst hierzulande gegeben hat, wage ich nicht zu behaupten, wohl aber, dass es einen Mangel an Bewusstsein dafür gegeben hat. Man schien damals ja wieder der Meinung, die Zeichnung sei am ehesten de „kleinen Form“, der Skizze, der Vorbereitung zuzuordnen, eine Art des Privaten, die es nur als anderes zur Öffentlichkeit der „größeren“ Formen oder aber in ihrer Intimität als gesellschaftskritisch ausgewiesene Satire zu akzeptieren gelte. Janssen bringt das Zeichnerische wieder in ein neues Recht. Vielleicht müssen wir nun auch seine Arbeit erst wieder aus einer Erstarrung befreien.
Autor: Georg Seesslen
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