Im November jährt sich der Tod Lew Tolstois zum 100. Mal. Zur Tragik des ewig Suchenden und Zweifelnden gehört auch seine unglückliche Ehe.
In der „Kreutzersonate“ entwirft er das dunkle Psychogramm einer zerrütteten Beziehung. Die intimen Offenbarungen hatten seine Frau Sofja, die ihm fast 50 Jahre lang treue Begleiterin war, zutiefst gedemütigt. Ihre Antwort war auch ein Buch: „Eine Frage der Schuld“.
Er schleicht sich aus seinem Haus wie ein Dieb. In einer Novembernacht, begleitet nur von der jüngsten Tochter und seinem Arzt. Wohin? Irgendwohin. Es würde sich finden. Hauptsache weg aus diesem Haus. Weg von seiner Frau, von ihrem Misstrauen, ihren ewigen Vorwürfen, ihrem Gram. Im eiskalten, windigen Zugabteil bekommt er eine Lungenentzündung. Man legt den Todkranken in das Bett des Bahnwärters von Astapowo. Es gibt ein Foto, da klammert sich seine Frau an das Fenster der Bahnstation. Man lässt sie nicht zu dem Sterbenden. Kein versöhnendes Wort, keine Vergebung.
„Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.“ Als Tolstoi diesen berühmten Anfangssatz von „Anna Karenina“ schrieb, konnte er dessen bitteren Wahrheitsgehalt am eigenen Leben noch nicht messen. Die ersten Ehejahre mit der jungen Sofja, in denen auch dieser Roman entstand, waren für beide wohl das romantische Glück zweier gleicher Seelen, das sie erträumten. Was dann folgte bis zu Tolstois einsamen Tod in Astapowo war Schmerz.
Viel wurde über diese Ehe geschrieben, gemutmaßt, geurteilt. Es gab genügend Zeugen und es gab genügend Selbstzeugnisse. Es gab Tagebuchaufzeichnungen. Und es gab Bücher. Seine Bücher. Im öffentlichen Urteil hat es eine Frau wie Sofja schwer. Tolstoi, der Menschenfreund, der anarchistische Pazifist, der seine christlich grundierte Ethik betrieb zeitweise bis zur literarischen Selbstverleugnung, war eine unangefochtene moralische Instanz. Ein weltbekannter Romancier sowieso. Was konnte sie in diesem Ehekrieg anderes sein, als die Xanthippe, die ihn mit ihrer ewigen Unzufriedenheit, ihrer Hysterie und ihren Klagen quälte, ihn behinderte, seiner Berufung zu folgen.
Als er die „Kreutzersonate“ schrieb, muss sie die Demütigung bis ins Mark getroffen haben. Zu unverschlüsselt waren die Bezüge zu seiner eigenen Biografie. Jeder, der wollte, konnte in diesem dunklen Drama die Geschichte seiner zerrütteten Ehe lesen. Als habe er ungefragt das Intimste in die Welt geschrien, das zwei Menschen verbinden kann, und machte dabei noch nicht einmal vor dem Schlafzimmer halt. Die Qual, an der Seite einer ungeliebten Frau leben zu müssen, ihre ermüdende Sorge um die Kinder, die jede Zweisamkeit zerstörte, ihre Klagen und ihre Eifersucht. Und auf der anderen Seite die selbstzerstörerischen Vorwürfe an den eigenen Körper, der immer wieder den Verlockungen der Frau erliegt, der nicht stark genug ist, der mit dem Geschlechtlichen jede Beziehung, jede Ehe, ihres höheren Sinns beraubt.
Aus heutiger Sicht lesen sich die Reflexionen der Figur Posdnyschow stellenweise wie die ermüdenden Traktate eines Mannes, der vor allem eines hat: ein Problem mit seiner Sexualität. Der nach Enthaltsamkeit strebt, aber sein Körper erlaubt es nicht. Die sexuelle Macht der Frau, der Verführerin, erlaubt es nicht. Wie ein Trinker, der immer wieder zur Flasche greifen muss, um am Morgen beschmutzt aufzuwachen. Sexualität als Dämon.
Ëinige Tolstoi-Biografen vermuten, diese obsessive Suche nach wahrhafter christlicher Moral sei seiner lebenslangen Angst vor dem Tod geschuldet. Für sie muss es gewesen sein, als habe man sie nackt auf den Basar getrieben. Gedemütigt vor aller Welt. „Ich wollte eine andere Liebe…“, schrieb sie in ihr Tagebuch. Sie hat sich gewehrt. Mit dem Drama einer zerrütteten Ehe, erzählt aus der Perspektive der Frau. Aus ihrer eignen.
„Eine Frage der Schuld“, verfasst 17 Jahre vor Tolstois Tod. Im russischen Original klingt der Titel noch klarer, ungeschminkter: „Wessen Schuld? Aus Anlass der Kreuzersonate Lew Tolstois, geschrieben von der Frau Lew Tolstois.“ Auch hier sind biografische Parallelen unübersehbar. Nur der Blick ein anderer. Der einer an Kälte und Eifersucht ihres Mannes krankenden Frau. „Sollte denn nur darin unsere weibliche Berufung bestehen, vom körperlichen Dienst für den Säugling zum körperlichen Dienst für den Mann überzugehen? Und das abwechselnd immerfort! Wo bleibt denn mein Leben?“ Die bittere Frage von Anna, ihrer Heldin, ist ein einziger Schrei der Sofja Tolstaja. Im Grunde ein emanzipatorischer Frauenroman. Umso mutiger, weil sie einem Lew Tolstoi mit dessen eigenen Mitteln antwortet.
Und er? Wie reagierte er auf die intimen Enthüllungen seiner Frau? Verbrieft ist nichts. Nicht einmal im penibel geführten Tagebuch. Vielleicht, mutmaßen Biografen, ist gerade dies ein Indiz dafür, wie sehr es ihn getroffen hat. Erschienen ist ihr Buch zu seinen Lebzeiten nicht. Auch nicht zu ihren. Erst 1994, also gut 100 Jahre später, wurde es in Russland erstmalig veröffentlicht. Von einigen mit Häme kommentiert, von anderen mit Verständnis.
Diese zwei Sichten in einem Buch. Als habe die Zeit ihr wenigstens im Rückblick Gehör geschenkt. Aber es ist mehr. In ihrem Urgrund erzählen sie von menschlichen Dramen, die sich 100 Jahre nach Tolstois Tod mit genau der gleichen Tragik abspielen. In jeder zerrütteten Beziehung. In der jede Seite ihre eigene Wahrheit hat.
Text: Elena Rauch
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