Wo ist Gerald Seymour
Porträt eines verschollenen Thrillerautors
„Der Moralist ist nicht mit einem Moralprediger zu verwechseln. Ein Moralist versucht, die Menschen seiner Zeit zu verstehen und zu schildern. Insofern ist der Thriller die letzte Zuflucht für einen Moralisten“, das meinte Großmeister Eric Ambler in einer Rückschau auf seine Romanarbeit. Selten äußerte sich der britische Jahrhundertautor außerhalb seiner Bücher (alle heute noch lesenswert und bei Diogenes in guten Ausgaben vorrätig gehalten). Ungewöhnlich begeistert aber lobte er, 1975, einen Erstlingsroman, den in Belfast zwischen Briten und IRA-Kämpfern spielenden grimmigen Thriller „Harry’s Game“ („Das tödliche Patt“) seines Landsmannes Gerald Seymour.
Gerald Who?, das mögen sich nun einige Leser fragen. In Deutschland ist es zehn geschlagene Jahre her, dass ein Verlag ein Buch von Gerald Seymour übersetzt hätte. Ich finde das kriminell.
Beschämend und erbärmlich: ein Alarmzeichen für den hiesigen Niveaupegel des Polit-Thrillers, der nun wahrlich ein wenig Blutauffrischung und Qualitätsmarkierung vertragen könnte. Aber die deutschen Verlage scheinen sich von Gerald Seymour verabschiedet zu haben – und dies, obwohl er beinahe Jahr für Jahr und auf begeisternd konstantem Niveau einen Roman vorlegt, der den Zusatz „politisch“ wahrlich verdient. In den angelsächsischen Ländern gilt er als „der beste lebende Thrillerautor“. In Deutschland nimmt niemand (mehr) Notiz von ihm. Seit 1975 hat er 27 zeitgeschichtlich genaue Romane veröffentlicht – ich erwarte jedes neue Buch von ihm mit Spannung. Zuverlässig gehört es zu den Lesehöhepunkten des Jahres.
Geboren 1941, beide Eltern Poeten, in Moderner Geschichte promoviert, Fernsehreporter geworden, den Zugüberfall der englischen Posträuber als einen der ersten Fälle, dann 1963 – 1978 an allen Krisenherden der Welt, von Vietnam über Irland, der Geiselnahme bei den Olympischen Spielen in München, den Schauplätzen der deutschen RAF, der italienischen Roten Brigaden und des Nahostkonflikts, hat sich der Moralist William Hershel Kean unter dem Namen Gerald Seymour auf den Thriller als Reportagemittel spezialisiert. Und ohne Übertreibung läßt sich sagen, daß es kaum einen politisch interessierten, zeitgenössischen Autor gibt, der die Welt so ungeschminkt zeigt. Ob es das bürgerkriegszerrüttete Irland, der Nahe Osten, Russland, Afghanistan, Arabien, Südafrika, Libanon, Iran, Irak, Mittelamerika oder die Balkanstaaten sind. Seymour macht aus uns passiven Nachrichtenkonsumenten Involvierte, Bewegte und Aufgerüttelte. Man habe es nicht gewußt, läßt sich nach der Lektüre seiner Bücher nicht mehr sagen.
Was freilich will unsereins schon wissen? Seymour, der handwerklich präzis arbeitende Schriftsteller, weiß um uns Drückeberger. Und er weiß auch, daß wir uns für den Erhalt von Botschaften nicht in eine Reihe stellen würden. Jedenfalls nicht freiwillig. Spannende Bücher dagegen, tiefenscharfe Charaktere, herzzerreißende Konflikte, jede Menge Tragik und Unausweichlichkeit und bittere Ironie, das klingt schon interessanter. Und was, wenn Seymour einer jener Romanciers ist, deren Geschichten an der Gurgel packen, weil seine Figuren alles andere als künstlich und ihre Konflikte glaubhaft und nachvollziehbar sind? Was, wenn auf einen Autor blind Verlaß ist, wenn jedes seiner Bücher die Leserintelligenz an keiner Stelle beleidigt? Folgen könnte man einem solchen Autor in alle Krisengebiete der Welt, und er hätte Millionen von Lesern (wie es in Großbritannien der Fall ist).
Seymour schreibt für Erwachsene. Er zeigt die Welt hinter der Welt. Seine Romane sind in der Konfliktschärfe wie Testanordnungen, sie deklinieren die Folgen des B- bis Z-Sagens. Er beschreibt jene Welt, die uns Zivilisten normalerweise nicht zugänglich ist, beschreibt den Preis, der für die Aufrechterhaltung unseres „Friedens“ zu zahlen ist. Von kleinen Leuten. Von normalen Leuten. Alles Übertriebene, Superhelden- und Märchenhafte, Melodramatische usw., eben all das, was vernünftige Leute sonst von den Holzschnitt-Thrillern fernhält, ist ihm fremd. Es gibt wenige Adjektive in seinen Romanen, es fehlen auch Schnörkel, Schwabbel und Schwafel, stilistisch wie erzählerisch, weiterhin aller Bekenntnis- und Mitteilungszwang oder die sonst genretypischen waffentechnischen oder konsumgüterfetischistischen Exkurse.
Seymour schreibt lean, ohne ein Gramm Speck. Auf der Glatze gedreht, an den Haaren herbeigezogen, in der Badewanne ausgedacht wirkt vieles an Thrillerstoffen verglichen mit seiner grimmigen Realitätsleidenschaft. Niemand wird bei ihm dämonisiert, gut Gute und bös Böse gibt es nicht bei ihm. Seine Figuren atmen, kämpfen, hoffen, leiden, bluten, und oft tun sie nur ihre Pflicht oder ihren Job. Seymour entführt uns in die Welt der Professionals. Darin Ambler ähnlich (der aber mehr auf Schelme setzte), treffen wir auf recht normale Menschen, die loyal/ /angestellt/gekauft zu einer Seite gehören und es mit Leuten gleichen Schlags der anderen Seite zu tun bekommen oder umgekehrt. Nein, die Welt steht nicht am Abgrund und hat nur noch fünf Minuten Zeit zur Rettung. Über Fernsehnachrichten-Göße reichen, zynisch betrachtet, Seymours Dramen letztlich nicht hinaus. Wir aber, dabei gewesen und die tödliche, scheußliche, unmenschliche Mechanik der Sachzwänge – die Antiquiertheit des Menschen – im Detail, im Loyalitätskonflikt der Staatsräson, der Weltwirtschaftsordnung erlebt, verstehen und fühlen besser, welchen Preis die Zivilisation alltäglich fordert und verschweigt. Der
unsichtbare Krieg, die Schattenkämpfe, der Terrorismus, das organisierte Verbrechen, sie haben ihre Wurzeln, und dort ist es, wo Seymour ansetzt. Er schwimmt, ganz der Erzählguerilla, im Strom der zeitgenössischen Ereignisse. Wie ein Meister der Mosaiken setzt er uns die Bruchstücke der Welt zusammen. Eigentümlich melodisch, ja rhythmisch ist sein Stil, ohne laute Töne, nichts wird zu lang gehalten oder gar ausgewalzt, alles ist höchst ökonomisch gewählt im Ausdruck, er schreibt ein schönes, klares Englisch, unkapriziös, handfest und uneitel.
Sein höchstes Ziel sah Eric Ambler stets darin, „genau zu wissen, was man ausdrücken will, und es dann ohne Erregung zu sagen“. Gerald Seymour hat daraus eine eigene Gattung entwickelt: den „lean thriller“.
Text: Alf Mayer
Seymours aktuellere Romane:
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Killing Ground (1997, deutsch als „Die Informantin“, 2000)
The Waiting Time (1998)
A Line in the Sand (1999)
Holding the Zero (2000)
The Untouchable (2001)
Traitor’s Kiss (2003)
The Unknown Soldier (2004)
Rat Run (2005)
The Walking Dead (2007)
Timebomb (2008)
The Collaborator (2009)
The Dealer and the Dead (2010)
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- Ross Macdonald – einer der besten amerikanischen Kriminalautoren des 20. Jahrhunderts - 22. September 2016
27. Dezember 2010 um 07:31 Uhr
http://www.youtube.com/watch?v=uUnGx2Ac5Es
danke für den tipp!
5. April 2012 um 02:09 Uhr
Nachdem ich mich durch das Buch „The dealer and the dead“ von Seymour kämpfte, weiß ich, warum kein Verlaf diese Bücher weiterhin in Deutsch verlegen will. Ich kenne nur dieses Bichvon S. Aber es wird auch das Letzte sein, das ich vom ihm lese.
Ein sehr umfangreiches Buch mit wenig Handlung, ständig wechselnden Personen.- und Zeitsprüngen, aber das Schlimmste: Frei von Fachwissen! Nie las ich eine so lächerliche, dilettantistische Beschreibung eines Killers. Das ist kein Thriller, sondern eine verunglückte Komödie oder Parodie (ich kann das beurteilen, da ich beruflich indirekt mit dem Genre in Berührung kam.