Wie lange dauert die Gegenwart? „How long is now“. – So steht es in großen Buchstaben an der Brandwand des Kunsthauses Tacheles, millionenfach von Berlin-Touristen fotografiert. Das Tacheles ist nun Geschichte. Die Frage nach Dauer und Gegenwart ist aber auch mit der Räumung nicht endgültig beantwortet. Denn „Jetzt“ ist ja immer, und vermutlich bekommt eine Stadt stets die Gegenwart, die sie verdient.
Das Tacheles war deshalb ein so faszinierender Ort, weil hier Geschichte sichtbar geworden ist, wie es nur in Berlin möglich war. Diese schöne Ruine mitten in der Stadt war ein Mahnmal der Zerstörungen des 20. Jahrhunderts, wirkungsvoller als jede Gedenkstätte. Hier konnte man die Vernichtungskraft von Bomben und die Einschusslöcher der letzten Straßengefechte sehen, in Stein gemeißelt. Auch wenn man nicht wusste, dass 1941 die Deutsche Arbeitfront das ehemals jüdische Kaufhaus erwarb und die SS-Dienststelle „Zentralbodenamt“ einzog, dass 1943 angeblich französische Kriegsgefangene unterm Dach untergebracht wurden, ja selbst wenn man gar nichts wusste, konnte man an diesen Mauern ablesen, wie lange Geschichte nachwirkt. Denn die Gegenwart ist ja nicht einfach bloß Jetzt. Sie enthält immer alles, was früher gewesen ist.
Hier war der Ort der Kunst, die in der Nachwendezeit die Brachen mit Leben füllte und in den Trümmern der Geschichte eine neue Zukunft entwarf – so wie oben auf den Mauerresten der Ruine ein paar rührende Birken emporwuchsen. Das Kaputte, Zerstörte, Unfertige gehörte nicht nur zur Stadt, es machte ihren Reiz und ihre Anziehungskraft aus. Überall Lücken, überraschende Perspektiven, weite Durchblicke: Das erlaubte auch dem Denken, gelegentlich auszuscheren und über freies Gelände zu schweifen. Mit dem Tacheles-Grundstück wird dann die letzte große Lücke geschlossen.
Wenn das Kunsthaus, müde geworden nach dem Jahrtausendwechsel, zuletzt nur noch als Touristenattraktion diente, dann war es auch darin ein Symbol für die ganze Stadt, die mehr und mehr zur Ballermann-Meile für Billigflug-Touristen verkommt. Bald wird hier dann wohl ein Hotel stehen, oder aber ein Bürohaus oder ein Einkaufszentrum – was eben in Berlin derzeit so gebaut wird. Auch daran wird sich die zukünftige Gegenwart der Stadt ablesen lassen, die eine Zukunft der Investoren ist.
Als Kunstraum war das Tacheles schon lange tot – untergegangen im juristischen Gezänk, in Touristenströmen und darin, zum bloßen Zeichen seiner selbst geworden zu sein. Deshalb kann man das Ende jetzt nicht wirklich beklagen. Traurig ist es trotzdem. Traurig, weil alles ein Ende in der Zeit hat, und weil die Kunst immer nur dazu dient, Zwischenräume und Zwischenzeiten zu füllen. Traurig auch deshalb, weil das Tacheles erst restlos verschwinden muss, bevor wir es vermissen können. Die Aufschrift „How long is now“ wird dann nur noch eine ferne Erinnerung sein.
Jörg Magenau, rbb-Kulturradio
Bilder: © getidan
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20. November 2012 um 22:02 Uhr
Wunderschöner Artikel. Immer wieder ertappe ich mich beim stillen Vergießen von Tränen über Artikel von der Schließung. Mein bis jetzt liebster Abgesang: http://exit-berlin.de/blog/2012/10/19/how-long-is-now-good-bye-tacheles/