Es ist schon seltsam: Einerseits trauen wir – also wir Wähler und Fernsehzuschauer in den Publikumsrängen der parlamentarischen Demokratie – den Politikern alles zu: jede Unwahrheit, jede Intrige, jede Schweinerei. Und das durchaus zu recht. Wer sich in der Politik behaupten will, muss ein gerissener Hund sein. Lüge, Eitelkeit und Missgunst sind Grundlagen des politischen Handwerks. Andererseits legen wir an Politiker allerhöchste moralische Ansprüche an, jedenfalls höhere als an uns selbst. Sie dürfen nicht lügen, sollen selbstlos und prinzipienfest sein, und wenn sie ein paar Bonusmeilen falsch abgerechnet haben oder mit dem Dienstwagen in Urlaub gefahren sind, müssen sie zurücktreten – wegen rührender Lappalien also, die wir uns selbst als kleine Kavaliersdelikte durchgehen lassen. Aber wir sind ja auch nicht als Volksvertreter gewählt und werden auch nicht mit öffentlichen Geldern bezahlt. Mit den Bezügen steigen eben auch die moralischen Ansprüche.
Politiker müssen – das ist ihr Dilemma – gleichzeitig unterschiedliche, geradezu gegensätzliche moralische Standards besitzen. Sie bewegen sich auf einem moralisch verminten Gelände, wo sie früher oder später zwangsläufig einen unbedachten Schritt machen werden. Denn so ist dieses Gelände eingerichtet. Das ist die Rache der Machtlosen an den Mächtigen. Guttenberg, zum Beispiel, trat ja nicht etwa deshalb zurück, weil er ein miserabler Verteidigungsminister war, sondern weil er dabei erwischt wurde, gelogen und betrogen zu haben. Da bewährte sich Moral als probates Mittel, einen Politiker bei Bedarf auch wieder lustvoll abzuservieren.
Anders liegt der Fall bei Bundespräsident Christian Wulff. Der Bundespräsident ist dazu da, Moral zu verteidigen und zu repräsentieren. Etwas anderes hat er nicht zu tun. Mit dem Bundespräsidenten leisten wir uns die institutionalisierte Illusion, dass Politik und Moral eben doch zusammenpassen. Deshalb ist es für Wulff so verhängnisvoll, den Kredit, den er von Freunden zu niedrigeren als den marktüblichen Zinsen erhielt, öffentlich verschwiegen zu haben. Bereits der Verdacht, dass die kleine Gefälligkeit mit einer kleinen Gegengefälligkeit honoriert worden sein könnte, beschädigt ihn in seiner Funktion als Moralbevollmächtigter. Dass das Wohnhaus, das er mit dem Kredit erwarb, so mittelmäßig und langweilig aussieht wie er selbst, ist ein anderes Problem. Wir haben nun mal keinen König, sondern einen Bürgerpräsidenten, der so sein soll, wie wir selbst. Nur ehrlicher. Dafür ist er da.
Wulff hat eine kleine Wahrheit verschwiegen und bekommt deshalb nun Schwierigkeiten. Sein Vorgänger im Amt, der unglückselige Horst Köhler, trat dagegen zurück, weil er aus Versehen die Wahrheit gesagt hatte, als er die ökonomischen Interessen des Westens in Afghanistan erwähnte und daraufhin den Rückhalt seiner Partei verlor. So kann man im moralischen Minenfeld der Politik auf sehr unterschiedliche Weise an der Wahrheit scheitern.
Jörg Magenau
Bild: CC BY-SA CFK_y_Christian_Wulff.jpg: Presidencia de la Nacion
- Sibylle Lewitscharoff: Das Pfingstwunder - 6. September 2016
- Elias Canetti: Das Buch gegen den Tod - 25. Dezember 2014
- Ernst Jünger: Feldpostbriefe an die Familie 1915-1918 - 9. November 2014
Schreibe einen Kommentar