Gab es ihn wirklich? Und wenn ja, wie viele?
Zu den dringlichsten aller unlösbaren Fragen der Menschheit gehört die Frage nach Shakespeare. Gab es ihn wirklich? Und wenn ja, wie viele? Hat in Wahrheit der Earl of Oxford seine Stücke geschrieben? Doch wer ist dann der Kerl mit dem Ohrring auf den Shakespeare-Porträts? War er tatsächlich nur der miese, kleine Schauspieler, der den Ruhm einheimste für einen Adligen, der im Hintergrund bleiben musste? So schildert es Roland Emmerich in seiner Hollywood-Variante der Geschichte. Emmerich tut so, als würde er einen gewaltigen Betrug aufdecken, wenn Shakespeare nicht Shakespeare, sondern ein anderer gewesen wäre. Als habe man seine Leser dadurch seit Jahrhunderten hinters Licht geführt. Als wären seine Stücke nicht mehr dieselben. Als wäre er dann so etwas wie ein Guttenberg der Literatur, und das kann ja nun wirklich niemand wollen.
Kafka ohne Kafka ist völlig unmöglich. Goethe ohne Goethe ist schwer vorstellbar, auch wenn „Dichtung und Wahrheit“ bei ihm nicht immer eindeutig auseinander zu halten sind. Doch Hamlet wäre auch ohne Shakespeare immer noch Hamlet, Macbeth bliebe Macbeth. Sie haben sich auf den Bühnen der Welt längst von ihrem Urheber gelöst. Warum also die ewige Erregung um den großen Dichter? Wir sind ja nicht alle Engländer, denen damit ein Nationalheiligtum genommen würde.
Vielleicht deshalb, weil es gar nicht um Shakespeare geht, sondern um den tiefer liegenden Glauben ans Authentische, ohne den die moderne Kunstauffassung nicht auskommt. Wir haben uns seit zwei, dreihundert Jahren daran gewöhnt, Kunstwerke als authentischen Ausdruck eines besonderen Menschen wahrzunehmen. Seine Werke sind Zeugnis seines subjektiven Blicks auf die Welt, Ergebnis seiner Erfahrungen und seiner Stellung in der Geschichte. Kunst muss durchs Leben hindurch, muss erlitten und erstritten werden, um in diesem Sinne „echt“ zu sein. Wenn ihr authentischer Charakter in Frage steht, sind Gemütsaufwallungen die natürliche Folge, wie seinerzeit auch die Debatte um Helene Hegemann bewies.
Ein Bild verliert auf dem Kunstmarkt an Wert, wenn sich herausstellt, dass es nicht von Rembrandt ist, sondern von einem seiner Schüler. Der Künstlername funktioniert hier wie eine Marke, die Qualität und Preis garantiert. Das ist vielleicht praktisch, aber insofern unsinnig, als zu Rembrandts und zu Shakespeares Zeiten die Arbeit in Manufakturen weit verbreitet war. Das Genie als Ausgeburt des Authentischen, als Über-Künstler und Groß-Individuum, dem die originellen Ideen in göttlicher Intuition nur so zufliegen, ist eine spätere Erfindung des bürgerlichen Zeitalters. Und das beruht schließlich auch im Feld der Ökonomie auf Erfindungsreichtum. Goethe ist der Prototyp dieses Genies, und es wäre schon bitter, eines Tages erfahren zu müssen, es habe ihn nie gegeben. So wäre es auch um Shakespeare schade. Ein Genie weniger. Aber dafür eine Geschichte mehr. Außerdem ist er ja gar nicht verschwunden. Er heißt jetzt bloß anders.
Jörg Magenau, rbb kulturradio 11.11.11
Bild: William Shakespeare (Chandos Portrait)
Das Chandos-Porträt ist eines der bekanntesten Porträts, von denen man annimmt, dass sie William Shakespeare (1564–1616) abbilden. Es wurde wahrscheinlich zwischen 1600 und 1610 nach dem Leben gemalt. Bisher konnte weder mit Gewissheit festgestellt werden, wer das Bild gemalt hat, noch ob es tatsächlich Shakespeare abbildet. Jedoch glaubt die National Portrait Gallery, dass es wahrscheinlich den Dichter zeigt. (Wikipedia)
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