Krisen, überall Krisen. Man könnte die Krise kriegen. Im Fernsehen nur noch Politiker auf der Anreise zum nächsten Krisengipfel oder schwer übermüdet am Morgen danach, ratlos. Krise in Athen, Krise in Brüssel, Krise in Rom, Paris, Berlin. Bilaterale Krisentelefonate, nationale Krisensitzungen, und täglich ein europäischer Sondergipfel. Man weiß schon gar nicht mehr, was Politiker eigentlich vor der Krise die ganze Zeit gemacht haben. Erst jetzt kommt ihre Geschäftigkeit so richtig zur Geltung. Auch wenn sie schwer besorgte Gesichter zeigen, scheinen sie sich in der Krise wohl zu fühlen. Nie waren sie so wichtig wie jetzt. Warum also sollten sie die Krise überwinden? Wie Ärzte bei der Visite im Krankenhaus eilen sie von europäischem Krisenherd zu europäischem Krisenherd und versuchen, den drohenden Kollaps durch immer neue Infusionen zu verhindern. Vergeblich. Am nächsten Morgen müssen sie neue Maßnahmen beraten.
„Krise“ ist eigentlich ein medizinischer Ausdruck, der die akute Phase eines Krankheitsverlaufes bezeichnet. Krisen sind dazu da, überwunden zu werden. Entweder ist der Patient dann tot, oder aber er kräftigt sich mit Hilfe einer geeigneten Therapie. So ist das theoretisch auch mit dem Kapitalismus, der seit eh und je planmäßig seine zyklischen Krisenphasen durchläuft, damit die Wirtschaft dann hinterher umso vergnügter brummt. Doch jetzt ist die Krise immer, und die Analogie von der Medizin zur Volkswirtschaft ist immer schon falsch gewesen. Denn während der menschliche Körper Krankheit mit Fieber bekämpft, kühlt die Konjunktur in der Krise ab, und die an der Börse gemessene Fieberkurve fällt in frostige Tiefen. Fiebrig wirken stattdessen nur die Akteure in ihrer hektischen Betriebsamkeit, wenn sie im Bundestag über Zahlen abstimmen, von denen sie nicht so genau wissen, wie viele Nullen da eigentlich dranhängen. Diese Nullen sind die wirkliche Krise. Den Griechen fehlen aktuell ein paar Hundert Milliarden. In der Badbank der verstaatlichten Hypo Real Estate fanden sich unterdessen 55 Milliarden rein zufällig, die schon als Verlust verbucht waren. Geben wir sie doch den Griechen, wenn wir eh nicht wussten, dass wir sie hatten.
Nur leider wäre die Krise damit nicht überwunden. Denn die Krise ist ja keine Geldkrise, die mit Geld zu lösen wäre. Das werden irgendwann auch die Politiker auf ihren andauernden Krisengipfeln merken. Es ist schlimmer: In dieser Krise geht der Glaube an das Geld verloren, also an alles, worum sich ein ordentliches, kapitalistisches Wirtschaftssystem dreht. Wenn es gar nicht zu merken ist, ob wir 55 Milliarden mehr oder weniger haben, wozu Geld vermehren wollen? Warum sich Sorgen um die Rente im Alter machen? Oder gekränkt sein darüber, sowieso immer viel zu wenig zu verdienen? Doch wenn in der Krise die Erkenntnis dämmert, dass es gar nicht ums Geld geht, weil Geld auch nur eine fiktive Größe ist: Worum geht es dann? Was ist der Sinn hinnieden auf Erden? Ach du lieber Gott, jetzt haben wir auch noch eine Sinnkrise!
Jörg Magenau
rbb 04.11.2011
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