Eine Bekannte, die sich als notorische Fußgängerin durch Berlin kämpft, berichtete neulich von einem Radfahrer, der sie auf dem Gehweg angefahren habe, weil sie nicht rechtzeitig zur Seite sprang. Als sie sich bei ihm beschwerte, entschuldigte er sich nicht etwa, sondern sprach den merkwürdigen Satz: „So ist Berlin.“ Er vertrat demnach die Ansicht, dass Menschen, die sich nicht über den Haufen fahren lassen wollen, hier fehl am Platz sind, ja mehr noch, dass aggressive Rücksichtslosigkeit als Beweis der eigenen metropolitanen Härte dient. Rücksichtnahme ist was für Weicheier, Freundlichkeit ist provinziell, und wer auf Regeln pocht, muss wohl ein Spießer sein.
„So ist Berlin“ – damit lässt sich alles rechtfertigen. Das könnte auch der U-Bahn-Schläger zu seinem Opfer sagen. Der Satz suggeriert, dass die Dinge und die Verhaltensweisen eben so sind, wie sie sind, und dass sie sich nicht ändern lassen. Vielleicht ist ja gerade das typisch für diese Stadt. Wenn Politiker damit für sich werben, dass sie „Berlin verstehen“, müssen sie sich nicht wundern, wenn die Antwort lautet: „So ist Berlin“. Eine Politik, die nur noch reagiert, anstatt Leitlinien zu setzen und so etwas wie gesellschaftlichen Zusammenhalt zu ermöglichen, hat bereits abgedankt. Wenn Politiker Berlin „verstehen“ wollen, anstatt zu regieren, dann ist es nur konsequent, wenn jeder meint, die Richtung angeben zu müssen und wenigstens auf der Straße zu zeigen, wo’s langgeht.
Wer sich einmal in New York aufgehalten hat, weiß, dass es auch in einer Weltstadt höflich und zuvorkommend zugehen kann und dass alle davon profitieren. Auf der anderen Seite der Skala stehen Städte wie Kairo, in denen es nicht die Radfahrer sind, die nachts ohne Licht ausschwärmen wie die Fledermäuse, denn Radfahrer würden dort nicht überleben. Irgendjemand muss den ägyptischen Autofahrern eingeredet haben, dass es uncool ist, Scheinwerfer zu benutzen. Berlin liegt beim Weltindex der Rücksichtslosigkeit also irgendwo in der Mitte, wie bei allen hiesigen Aufreger-Themen.
Berlin galt einmal als Hauptstadt der Anarchie. Das war in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als Hausbesetzer die Schlagzeilen bestimmten und Spontis aller Art aus dem braven Westdeutschland hierher zogen, wo das wilde, echte, gefährliche Leben lockte. Im Straßenverkehr ging es damals vergleichsweise friedlich zu, vielleicht deshalb, weil es noch andere Felder gab, in denen anarchische Bedürfnisse ausgelebt werden konnten. Auf den Straßen zeigt sich, wie eine Gesellschaft funktioniert und wie jeder Einzelne sich darin begreift. Rücksichtslose Auto- oder Fahrradfahrer unterscheiden sich dabei nur graduell von Bahn-Fahrgästen, die ohne aufzublicken auf ihr Display starren, Klingeltöne ausprobieren oder im Brüllton telefonieren. Wir sind eine Gesellschaft technoider Autisten – trotz oder wegen all der hilfreichen Navigationsgeräte. Verkehrsteilnehmer mit Sozialkompetenz sind wir leider nicht.
Jörg Magenau
rbb Rundfunk Berlin-Brandenburg
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