Über Alzheimer gibt es jede Menge Witze. Das ist der beste Bewies dafür, dass es sich um eine ernste Sache handelt, um einen der größtmöglichen Schrecken der Gegenwart. Das Wort bezeichnet ein schwarzes Loch der Erinnerung, in dem die eigene Person allmählich verschwindet. In früheren Jahrhunderten sagte man dazu Verwirrtheit, und die Alten, die auf dem Ofenbänkchen saßen und nicht mehr wussten, wer sie sind, gehörten zum natürlichen Lebensablauf dazu. Alzheimer dagegen ist als Krankheit definiert, muss also bekämpft werden, auch wenn dieser Kampf vergeblich ist. Da hilft kein Gedächtnistraining, so wie ja auch kein noch so ausdauerndes Fitnessprogramm den Tod verhindert. Schicksalhafte Unausweichlichkeit steckt darin, die nicht nur für Selbstverliebte eine narzisstische Kränkung bedeutet. Vielleicht wird deshalb so viel darüber geredet.
Alzheimer ist ein Modethema; Bücher über Alzheimer haben gute Chancen, zu Bestsellern zu werden. Warum ist das so? Arno Geiger gibt in seinem Vaterbuch eine mögliche Antwort. Alzheimer, sagt er, ist symptomatisch für ein Jahrhundert der Zukunftsangst und zunehmender Orientierungslosigkeit, gerade für die Generation der Väter, die noch in einer fest gefügten Ordnung aufwuchsen. Geigers These passt zur bäuerlichen Welt, der sein Vater entstammt. In einer Großstadt wie Berlin drängt sich eine andere Vermutung auf: Hier, wo man auf Schritt und Tritt der Geschichte begegnet, herrscht ein gesellschaftlicher Imperativ des Erinnerns: Stolpersteine und Gedenktafeln aller Orten belegen, als welche Bedrohung der Erinnerungsverlust angesehen wird. Nichts ist so gefürchtet, wie das Verschwinden.
Natürlich steckt in dieser Angst die Angst vor dem Tod. Inge Jens hat im Bericht über die Alzheimer-Erkrankung ihres Mannes eindrucksvoll geschildert, wie das ist, wenn der geliebte Mensch zwar weiterlebt, aber eigentlich schon nicht mehr existiert. Ganz ähnlich ist das im Buch von John Bailey über seine Frau, die Schriftstellerin Iris Murdoch. Dieser Blick protokolliert Verluste und ist eher trostlos, besonders dann, wenn es sich bei den Verlöschenden um Schriftsteller handelt, die doch in der Sprache zu Hause waren und nun wortlos im Leeren sitzen. Der Blick des Sohnes, wie ihn Arno Geiger kultiviert, ist dagegen distanzierter. Der Vater ist zunächst eine fragwürdige Figur, und erst die Pflegebedürftigkeit rückt ihn näher heran. Der Sohn übt sich in Geduld und Zuneigung und frommer Denkungsart. Er entdeckt im bruchstückhaften Bewusstsein des Vaters geradezu poetische Dimensionen. Der Alzheimerkranke wird zum Dichter. Was macht die Persönlichkeit aus? So schrecklich das Selbstvergessen auch ist: Darf man den Ichverlust in einer Gesellschaft selbstverliebter Möchtegern-Individualisten vielleicht sogar als Gnade betrachten? Alzheimer stellt Fragen, auf die es keine Antwort gibt. Der Abgrund, auf dem sich das Leben ereignet, ist immer schon da.
Text: Jörg Magenau
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