Meteorologisch betrachtet entstehen Stürme als Luftmassenausgleich zwischen Gebieten mit verschieden hohem Luftdruck. Der Sturm auf dem Mittelmeer, in dem ein Boot voller Flüchtlingen kenterte und unterging, hat aber noch andere Gründe. Auch in der Weltbevölkerung gibt es wie bei den Luftmassen unterschiedliche Druckverhältnisse, die Menschen dazu bringen, sich auf den Weg zu machen. Sie streben aus den Tiefs – dem Elend, dem Hunger, der Perspektivlosigkeit – dorthin, wo ein Hoch Anziehungskraft entfaltet: also die Aussicht auf Arbeit, Essen und ein Dach über dem Kopf. Die Flüchtlingsströme, die aus Afrika nach Europa drängen, gehorchen demnach gewissermaßen physikalischen Gesetzen. Sie kommen, weil die Druckverhältnisse so sind, wie sie sind. Deshalb lassen sie sich nicht aufhalten – nicht durch Stacheldraht, nicht durch Lagerhaft und auch nicht durch den drohenden Tod durch Ertrinken.
Die Bilder und Berichte, die uns vom Mittelmeer erreichen, sind archaisch und von mythischer Wucht. Ein völlig überfülltes Boot kenterte, als sich in Nacht und Sturm die rettende italienische Küstenwache näherte, weil die Flüchtlinge in ihrer Panik alle auf eine Seite des Schiffes rannten. Die Aussicht auf Rettung löste also erst die Katastrophe aus. Auch wenn es davon keine Bilder gibt, ist es nicht schwer, sich vorzustellen, wie die Menschen ins Wasser fallen, wie sie schreien und mit den Armen rudern, wie sie winken und sich emporrecken, bevor sie im Dunkel verschwinden. Menschenleiber, Druckverhältnisse.
Solche Geschichten kennen wir aus Homers Odyssee. Kaum zu fassen, dass es im 21. Jahrhundert immer noch so zugeht. Ein anderes Bild, das dabei auftaucht, ist Théodore Géricaults „Floß der Medusa“, das einen Haufen halbtoter, verzweifelter Schiffbrüchiger auf hoher See zeigt, die mit einem Rest an Hoffnung nach vorne, zum Horizont schauen. Verzweiflung, Untergang, Hoffnung, Rettung: das sind große Themen der Menschheitsgeschichte, die im Mythos aufgehoben sind. Dass Lampedusa so ähnlich klingt wie Medusa, wirkt da bloß wie ein überdeutlicher, unnötiger Hinweis eines unerfahrenen Regisseurs. Was lehren uns diese immer wiederkehrenden Geschichten? Dass es einen Horizont der Hoffnung gibt, der aus der Ferne wie eine Verheißung wirkt.
Im Unterschied zu Wetterphänomenen ist das irdische Wohlstandsgefälle allerdings kein Naturprozess. Es ist von Menschen gemacht, dass die einen arm sind und die anderen nicht. Weil aber die einen, also wir, auf Kosten der anderen leben, also denen dort, ist alles Mitleid, das bei der Betrachtung von Katastrophen aufkommt, von Schuldgefühlen grundiert. Mitleid ist verlogen und falsch, wenn es nur zur Folge hat, die Ertrinkenden aus dem Meer zu fischen, um sie anschließend wieder nach Hause zu schicken, an den Druckunterschieden aber nichts zu ändern. Solange es Armut gibt, werden die Armen ins Wasser fallen, und Schwimmen haben sie nicht gelernt.
Text: Jörg Magenau
Text: Jörg Magenau
gesendet auf rbb-kulturradio am 08.04.2011
Bild: Théodore Géricault(1791-1824): Das Floß der Medusa (Le Radeau de la Méduse), 1819, Öl auf Leinwand, 491 × 716 cm, Louvre
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