Sinneswandel in der Atompolitik?
Wie phantasielos dürfen Politiker eigentlich sein, damit sie nicht zum Risikofaktor werden? Die Frage stellte sich bisher erstaunlicherweise nicht. Denn die Vertreter dieses Berufsstandes hatten es nach eigenem Bekunden stets mit sogenannten „Realitäten“ zu tun, und sie glaubten, dafür brauche man keine Phantasie. Politiker zeichnen sich eher durch Pragmatismus, Kompromissfähigkeit, machtstrategisches Geschick und Gremienzähigkeit aus. Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen, meinte Helmut Schmidt. Utopien sind im Lauf des 20. Jahrhunderts im Namen von Kommunismus und Faschismus nachhaltig diskreditiert worden. Vielleicht galt deshalb Phantasie – oder sagen wir: ein Talent fürs Fiktive – bis vor kurzem als eine eher fragwürdige politische Eigenschaft. Wer sich am Unmöglichen orientierte und nicht am Realen, musste sich als „Phantast“ beschimpfen lassen.
Doch auf einmal ist alles anders. Schuld daran ist die Nuklearkatastrophe in Japan, die beweist, dass das als Restrisiko bezeichnete Unwahrscheinliche eben doch wahr werden kann. Der Schock, den diese Erkenntnis in der politischen Klasse ausgelöst hat, ist nur dadurch zu erklären, dass die Phantasie dort offenbar nicht ausreichte, um sich diesen Fall tatsächlich vorzustellen. Dabei hat sich doch auch schon in Harrisburg und Tschernobyl ereignet, was der Statistik zufolge nur alle paar tausend Jahre einmal und also eigentlich überhaupt nicht vorkommen sollte.
Für die Politik ergibt sich aus der Exstenz der Nukleartechnologie die zwingende Notwendigkeit, auch das Unmögliche ins Kalkül zu ziehen. Wenn die Erfahrung lehrt – und das ist ja nun die neue Lage – dass das Restrisiko sich realisieren kann, dann ist es mit neuen Sicherheitsstandards und Ethikkommissionen sicher nicht getan. Dann stehen die Voraussetzungen, unter denen in den letzten Jahrzehnten Politik gemacht wurde, auf dem Prüfstand. Dann muss in Zukunft eben auch die Vorstellungskraft zu den politischen Fähigkeit gehören. „Die Phantasie an die Macht“ – das war vor langer Zeit schon eine richtungweisende Parole der Studentenbewegung.
Da aber ein Mappus und vergleichbare Charaktere in diesem Bereich nicht nachrüstbar sind, brauchen wir anderes, besseres Personal, das den modernen Anforderungen entspricht. Deshalb ist der Wahlausgang in Baden-Württemberg konsequent. Jetzt können die regieren, die in der Anti-AKW-Bewegung seit eh und je bewiesen haben, wie realitätstauglich sie mit ihrem phantastischen Sinn für das Unwahrscheinliche immer schon gewesen sind. All die anderen, die nun plötzlich ihre Lernfähigkeit betonen – wie Horst Seehofer – oder gar „verstanden“ haben wollen, wie Guido Westerwelle, sind politische Auslaufmodelle. Je mehr sie zu lernen behaupten, um so weniger haben sie zuvor begriffen. Das ist ihr Dilemma. Mit etwas Phantasie hätte man auch schon vor Fukushima ahnen können, was Atomkraft bedeutet. Mit Abschalten allein ist es deshalb nicht getan. Das Abtreten der Phantasielosen wäre noch wichtiger.
Text: Jörg Magenau
Bild: Röntgenbild eines menschlichen Schädels in seitlicher Projektion via Wikimedia
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30. März 2011 um 19:05 Uhr
die krise der imagination betrifft nicht nur die politische klasse. Sie ist ein allgemeines phänomen, bezogen auf fast alle gegenstände; leider. Ein prägnantes beispiel: sterbehilfe
Auch die grünen sind davon infiziert (siehe hartz 4). Einen gau vorherzusehen war schon vor jahrzehnten eine simple phantasietätigkeit und ist für mich kein beleg für den >sinn für das unwahrscheinliche<