Landliebe und Landlust des stadtmenschen

I.

Der Großstadtmensch sehnt sich hinaus aufs Land. Da draußen, sagt er, ist das Leben unverfälscht. Da gibt es Wiesen und Wald, frische Luft und weite, menschenleere Gegend, und alles wächst und blüht und gedeiht, und es ist einfach da, immer und ewig, und es ist wie es ist, denn es gibt keinen Modefirlefanz. Der stillstehende Reiher am Seeufer erfreut den Großstadtmenschen, wenn er ehrlich ist, mehr als der Film der Saison, den er unbedingt gesehen haben muss – auch wenn er Natur nicht gegen Kultur ausspielen möchte. Er betrachtet das Land als einen für ihn geschaffenen Erholungsraum. Natur umgibt die Stadt ja vor allem deshalb, damit der Großstadtmensch Ausflüge machen kann. Beim Gedanken an die Natur erlaubt er sich das Gefühl, in der Stadt wie in einem Gefängnis zu leben. Raus aus dem Hamsterrad, sagt er sich. Endlich zur Ruhe kommen.

Doch wenn er dann, normalerweise am Sonntagnachmittag, dort draußen für ein paar Stunden sein Handy ausschaltet, macht sich Unruhe in ihm breit. Das Ameisengekrabbel ist ihm lästig. Vor Wespen, die er von Bienen nicht unterscheiden kann, fürchtet er sich, und Libellen, die doch dafür da wären, einfach nur schön zu sein, kommen eher selten vor. Der sandige Weg durch den Kiefernwald ist lang und heiß und öde. Kein Landgasthof, nirgends, und auch kein Reiher am See. Wenn die Wildschweinfamilie seinen Weg kreuzt, hält er die Luft an, man weiß ja nie, wie die Tiere reagieren. Tiere besucht der Großstadtmensch lieber am Tag der offenen Tür im Bio-Bauernhof, von dem er auch sein Gemüse bezieht. Um Schweinemastanlagen macht er einen Bogen, Massentierhaltung lehnt er ab. Natur soll natürlich bleiben, sagt er.

Abends steht er dann im Stau, denn er war nicht der einzige, der auf die Idee kam, den schönen Tag zu nutzen. Wer rausfährt, muss auch wieder rein, und vielleicht ist das der Moment, in dem er darüber nachdenkt, ins Grüne zu ziehen, ein altes Bauernhaus zu kaufen oder doch besser gleich ein neues Haus zu bauen nach allen Erkenntnissen der Energieeffizienz. Und bald wohnt er da mit seinesgleichen, Haus an Haus und Garten an Garten, und erst da wird dem Großstadtmenschen klar, dass er die Stadt mitgenommen hat, dass das Land zum Umland geworden ist und das Umland zum Stadtrandgebiet. Aber immerhin: Die Zaubernuss neben dem Carport hat er selbst gepflanzt.


II.

Im späten 19. Jahrhundert kam das Wort „Landpartie“ in die deutsche Sprache. Es hatte nichts mit dem englischen „Party“ zu tun, das im heutigen Sprachgebrauch vorherrscht und alle Feierlichkeit mit immanentem Spaßterror infiziert. Die Landpartie war stiller, vornehmer, sinnlicher. Sie drang aus dem Französischen herüber. „Partie de campagne“ – das klang nach impressionistischen Gemälden, auf denen weiß gekleidete Damen mit Sonnenschirm und Herren mit Kneifer und Hut sich auf einer blühenden Wiese zum Picknick lagern. Die Landpartie setzte Kutschen und Diener voraus, Wein aus Krügen und Körbe mit Geschirr und Proviant. Vor allem aber setzte sie große Städte voraus, denn erst mit ihnen wuchs die Natursehnsucht. Deshalb brach man in Paris schon zur Landpartie auf, als die Deutschen noch in Weimar, Jena oder Bonn vor sich hin posemuckelten. Der Eichendorffschen Waldeinsamkeit fehlte der Gegenpart, die Großstadt. Und im weiten Russland mit den Metropolen Moskau und St. Petersburg verbrachte der Adel gleich den ganzen Sommer auf seinen Landsitzen, um erst im Winter auf Pferdeschlitten in die Stadt zurückzukehren. Die Romane von Tolstoi oder Dostojewski beziehen aus diesem Wechsel ihren Rhythmus; der Gegensatz von Stadt und Land ist darin aufgehoben.

Die Vergnügungen einer Landpartie in Guy de Maupassants gleichnamiger Novelle sind abgründig und gefährlich. „Gott sei Dank, jetzt sind wir im Freien“, sagt Herr Dufour, kaum dass die kleine Gesellschaft die Brücke von Neuilly erreicht hat, die den Ort markiert, an dem die Stadt Paris endet und das Land beginnt. „Seine Frau“, so heißt es weiter, „fing bei diesen Worten sofort an, die Natur anzuschwärmen.“ Da weiß sie noch nicht, dass der Tag sie mit einer erotischen Eskapade im Gebüsch belohnen wird. Doch die Ahnung, die Möglichkeit der Grenzüberschreitung liegt in der Luft und im flirrenden Licht. Im Sehnsuchtsruf nach Freiheit und Natur ist das Vibrieren der Sinne immer schon enthalten. Die Bewegung raus aus der Stadt wird vom Wunsch getragen, die eigenen Fesseln zu sprengen. Die Natur ist ein von bürgerlichen Konventionen befreites Gebiet. Darin liegt ihr Versprechen.

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Der Sonntagsausflug erlaubt, die Vorzüge des Landes

zu genießen, ohne die eigene Lebensweise aufzugeben.

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Darin liegt aber auch ihre Bedrohlichkeit. „Wie fade ist doch das Landleben und wie wenig kommt es tätigem Denken zustatten!“, schrieben die Brüder Edmond und Jules de Goncourt im schönen Mai des Jahres 1857 in ihr Tagebuch. „Die Unbeweglichkeit, die Stille, das Schweigen, die großen Bäume mit ihren Blättern, die sich in der Hitze wie die Füße von Schwimmvögeln falten, das macht nur Weiber, Kinder und Notare fröhlich. Doch fühlt der Denker sich davor nicht voller Unbehagen? Wie vor dem Feind, wie vor einem Antagonisten, dem Werk Gottes, das ihn verzehren und Dung aus ihm und aus seinem arbeitenden, denkenden Gehirn eines Philosophen nur schönes Laub machen wird.“ Jenseits der Konventionen lauert der Stumpfsinn und dahinter der Tod. Besseres ist von der Natur nicht zu erwarten.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts haftet der Landpartie dann endgültig ein gewisser Schrecken an, so sehr hat sie sich mit alles überdeckendem Jubel, Trubel, Heiterkeit vollgesogen. Vielleicht ist diese Verflachung auch eine Folge des Übergangs von Frankreich nach Deutschland. „Gäste!“, ruft ein indignierter Pensionsgast, der reiche Fischhändler aus der Großstadt, in Thomas Manns Novelle „Tonio Kröger“ aus, denn er fürchtet um seine Ruhe: „Gott soll uns bewahren, wir werden nicht schlafen können, diese Nacht! Es wird Tanz geben, Tanz und Musik, und man muss fürchten, dass das lange dauert. Es ist eine Familienvereinigung, eine Landpartie nebst Reunion, kurzum, eine Subskription oder dergleichen, und sie genießen den schönen Tag. Sie sind zu Boot und zu Wagen gekommen, und jetzt frühstücken sie. Später fahren sie noch weiter über Land, aber abends kommen sie wieder, und dann ist Tanzbelustigung hier im Saale. Ja, verdammt und verflucht, wir werden kein Auge zutun …“ Die feinere Gesellschaft wäre gerne unter sich geblieben. Sie floh ja auch vor den Menschenansammlungen der Stadt, vor zu viel Volk, vor dem Plebejertum. Doch indem die aristokratische Landpartie zum demokratischen Sonntagsausflug degenerierte, war es mit ihr vorbei. Der ersehnte Ort der Ruhe ist zu einem Festgelände mutiert, das nur deshalb aufgesucht wird, weil sich dort ungestört lärmen lässt.


III.

Der Sonntagsausflug erlaubt, die Vorzüge des Landes zu genießen, ohne die eigene Lebensweise aufzugeben. Der Großstadtmensch ist für ein paar Stunden zu Gast in einer Gegend, in die er nicht gehört. Die echten Natursucher, die Freiheitsliebenden, die Landschaftsgläubigen, müssen andere, radikalere Wege beschreiten. Wer es ernst meint, verlegt seine Existenz ganz aufs Land, um neue Lebensformen zu erproben. Man habe all die Jahre hindurch „soviel von Natur und Wahrheit gesprochen, von dem Freilichte, woran die Kunst genesen soll“, doch im „grauen Häusermeer Berlins“, im „brodelnden Hexenkessel“ der Stadt, suche die Seele vergeblich danach, schrieb der naturalistische Schriftsteller Julius Hart in seinen Lebenserinnerungen.

Zusammen mit seinem Bruder Heinrich gründete er 1890 vor den Toren Berlins den „Friedrichshagener Dichterkreises“, wo Bruno Wille Verse schrieb wie diese: „O selig / Zu öffnen die Tore der Stadt / Genesende Geschwister / Zu führen an den Händen / Zur mutterglücklichen Natur, / Die mit heißem Sonnenmunde / Die bleichen Kinder küsst“. Das klang eher nach Sommerlandverschickung für darbende Arbeiterkinder, doch der kleine Ort wurde für ein paar Jahre zur Pilgerstätte für Literaten und Künstler – von Erich Mühsam bis zu Lou Andreas-Salomé, von Rudolf Steiner bis zu Edvard Munch und August Strindberg. Nur Gerhart Hauptmann zog es vor, in Erkner zu separieren. Friedrichshagen war Provinz in Sichtweite und mit direktem Bahnanschluss. Bei Bedarf kam man von dort aus schnell in die Stadt, ins Theater, in die Zeitungsredaktionen und überall dahin, wo der Intellektuelle auf der gesellschaftlichen Bühne agiert. Die „Wahrheit“ aber, von der Hart sprach, war auf dem Land und in der freien Natur zu finden – und nicht in der von Elend und Armut, Gleichgültigkeit und Betriebsamkeit gezeichneten Stadt.

Das schweizerische Monte Veritá, ein Hügel oberhalb der Stadt Ascona, machte die Verbindung von Kunst, Natur und Wahrheit schon im Namen deutlich, als würde es sich um einen Ort der Verkündigung handeln. Hier entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Künstlerkolonie, die als Ideal des intellektuellen Aussteigertums und sogar als Vorform der Landkommunen der Hippie-Ära gelten kann. Östliche Meditation und Psychoanalyse, Anarchismus und Anthroposophie, sexuelle Libertinage und politischer Widerstand gegen die Autokratien des imperialen Zeitalters trafen hier aufeinander – keineswegs konfliktfrei. Wieder waren zwei Brüder die Gründer: Karl und Gustav Arthur Gräser. Hermann Hesse und Ernst Bloch, Ernst Toller und Hugo Ball und viele andere fühlten sich von diesem Ort angezogen, der während des ersten Weltkrieges zur Oase für die seltene Spezies der Pazifisten wurde. Erich Mühsam kam aus Friedrichshagen herüber. Hesse wurde durch die Gemeinschaft im „Bund der Gezeichneten“ vom Berg der Wahrheit so stark geprägt, dass er auch später im Tessin blieb und in Montagnola seine eigene Pilgerstätte aufbaute. Denn Wahrheit ist nur in der Natur.


IV.

Das Unbehagen an der Technik und die Liebe zum Land waren jedoch kein Privileg der Pazifisten. Auch einen kriegsgestählten Autor wie Ernst Jünger zog es ins Freie. Die „Stahlgewitter“ an der Somme und in Flandern hatte er als Ort heroischer Bewährung erlebt und sich durch seine Unerschrockenheit ausgezeichnet. Die Großstadt aber machte ihm Angst. In Berlin waren die Frontlinien und Grabensysteme, Dienstvorschriften und Umgangstöne weniger leicht zu begreifen. 1921 arbeitete der ordensgeschmückte Held und junge Kriegsautor in der Militärverwaltung. In den Nächten durchstreifte er die Gegend am Nordhafen, die Arbeiterbezirke im Wedding, die Straßen um den Alexanderplatz, und was er sah, beunruhigte ihn sehr. Schon damals, behauptete er einen Weltkrieg später, habe er deutlich empfunden, wie mürbe die Städte geworden seien, wie sehr sie ihrem Untergang im Bombenhagel entgegenfieberten.

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Natur kennt zwar die Bewegungsgesetze von Entwicklung

und Evolution, nicht aber den historischen Fortschritt.

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Jünger war, wie so viele seiner Generation, auf dem Land aufgewachsen. Die schönsten Jahre seiner Kindheit hatte er in Rehburg am Steinhuder Meer verbracht, wo er zusammen mit dem Bruder Friedrich Georg die Moore und die Wälder erkundete, Vögel beobachtete und Käfer sammelte und sich dem „Wandervogel“ anschloss. Kein Wunder also, dass er sich der Stadt Berlin ebenfalls als Wanderer annäherte und sie ihm da am erträglichsten schien, wo sie in Natur überging. „An den Dämmen und Grachten, an denen sich die Lichter im Spreewasser spiegeln, fühle ich mich immer erquickt“, schrieb er dem Bruder. „Besonders im Osten, wo der Strom sich mächtig erweitert, betrachte ich oft mit einem Gefühl der Kühlung den Spiegel, über den die Hochbahnen hinwegbrausen. Mit dem Wasser dringt das Elementare in diesen künstlichen Raum, und zugleich verspüren wir eine tiefere Verwandtschaft, die fast im Unendlichen liegt, wie mit den Fischen, die dort unten über den kühlen Gründen stehn, oder mit dem Schilf, das die Ufer begrenzt. Hier liegt meine Kraft, die ich an die Ordnungen ausleihe, und die mir unter allen Umständen verbleibt. Wie ein Stück Eisen, zu welcher Form es immer verarbeitet sei, rein als Eisen in seinen Atomen mit sich identisch bleibt und den Wechsel der Stile in einem zeitloseren Sinne überdauert, so fühle ich mich mit meiner Wildheit identisch, und wenn das große Zauberwerk in Schutt und Asche versinkt, will ich immer noch imstande sein, als Räuber auf und davon zu ziehen.“

Besser also, zu den Fischen zu gehören als zu den Menschen. Lieber ein Naturwesen sein als Teil des Zivilisationsplunders, lieber „elementar“ als „künstlich“. „Lebe wild und gefährlich“, nannte man das gegen Ende des 20. Jahrhunderts, in freundlicher Erinnerung an Arthur Rimbaud, ohne auch nur zu ahnen, wie nah man damit dem Lebensgefühl des geschmähten Ernst Jünger kam. Schon der wollte mit sich selbst identisch sein, lange bevor „Identität“ und „Authentizität“ zu Zauberworten der Alternativbewegung wurden. Die Unterschiede zwischen „links“ und „rechts“, zwischen Monte Veritá und Käfersammeln, zwischen Pazifismus und antidemokratischer Zerstörungswut (wie in Jüngers Schriften aus den 20er Jahren), sind womöglich weniger groß, als man annehmen möchte. Beides gründet auf der radikalen Ablehnung der bürgerlichen Welt mit ihrer ökonomischen Vernutzung der Dinge. Beides steht in der kulturphilosophischen Tradition des Jean-Jacques Rousseau, der den „Naturzustand“ als ursprüngliche Harmonie pries, die allen kulturellen Errungenschaften vorzuziehen sei. Allerdings ist auch Rousseaus „Naturzustand“ ein kulturelles Konstrukt, eine bloße Idee, dazu geschaffen, um sie der Gesellschaft, der Kultur, der Technik, den Institutionen entgegenzuhalten.

In Markennamen wie „Landliebe“ (Joghurt) oder „Landlust“ (Zeitschrift) sind noch Spurenelemente dieser Idee zu finden. Der Glaube daran, dass Natur immer besser und viel gesünder ist als das Synthetische, wirkt auch noch dann, wenn das Produkt vorwiegend künstliche Aromastoffe enthält. Das gilt nicht zuletzt für die Natur selbst, an der ja, wie man sich bei jedem Sonntagsausflug überzeugen kann, nicht allzu viel natürlich ist. Als Räuber auf und davon zu ziehen ist schwer, wenn man hinter dem Wäldchen auf die Umgehungsstraße stößt, auf den Gewerbepark oder die Wohnresidenz.


V.

Das freie Land beginnt erst da, wo die Uhren anders gehen. Vielleicht zielt die Natursehnsucht tatsächlich sogar weniger auf den unbebauten Raum, als auf die unverstellte Zeit. Natur kennt zwar die Bewegungsgesetze von Entwicklung und Evolution, nicht aber den historischen Fortschritt. Sie basiert auf dem Prinzip der Verschwendung, nicht auf dem ökonomischen Gesetz des Wachstums. Die Entwicklung der Arten ist ein Folge der Anpassung an sich verändernde Lebensbedingungen, lässt sich also nicht der Konstruktion verbesserter Automodelle vergleichen. Denn die Zeit, die ihr zugrunde liegt, ist nicht auf eine bessere, glücklichere, utopische Zukunft ausgerichtet, sondern immer nur aufs Überleben, auf sich selbst in ewiger Wiederkehr. Die natürliche Zeit verläuft zyklisch und nicht linear.

 Spaziergang im Frühling (Hans Andersen Brendekilde 1903, Öl auf Leinwand)

Spaziergang im Frühling (Hans Andersen Brendekilde 1903, Öl auf Leinwand)

Peter Kurzeck beschreibt in seinem epochalen Dorfroman „Kein Frühling“ den Übergang von der einen in die andere Ordnung. Das Buch erschien 1987, in der Phase der erstarkenden Alternativbewegung, als die Linke in der Bundesrepublik Latzhosen trug und eine besondere Liebe zu Komposthaufen entwickelte. Auch in der DDR zogen sich die von der sozialistischen Wirklichkeit enttäuschten Intellektuellen aufs Land zurück, um unter sich zu sein und dem Zugriff der Partei zu entkommen. Bücher wie Christa Wolfs „Sommerstück“ oder ihre Tschernobyl-Erzählung „Störfall“ beschreiben diesen Landgang und wurden folglich auch im westdeutschen Grünen-Milieu gerne gelesen.

Kurzecks „Kein Frühling“ führt zurück in die unmittelbare Nachkriegszeit, in der es so etwas wie Natur noch gab. Ort der Handlung ist das hessische Dorf Staufenberg. Hier kam Kurzeck nach dem zweiten Weltkrieg als böhmisches Flüchtlingskind an, hier wuchs er auf und erlebte die Zeit des Wirtschaftswunders und die Epoche der Motorisierung als einer zweiten, zivilen Mobilmachung. Im Dorf war das Leben noch durch den Wechsel der Jahreszeiten und der damit verbundenen Arbeiten geprägt. In der Erinnerung des Erzählers war die meiste Zeit November. „Kein Frühling“ eben, das Leben ist hart. Die alltägliche Mühsal ergab in der Summe keine Zeitgeschichte, sondern nur jeweils den „heutigen Tag“. Der gerade erst beendete Krieg war nur noch vom Hörensagen bekannt, jedenfalls so weit weg, dass die Dorfbewohner fragen: „Ist der Krieg denn jetzt eigentlich rum oder nicht?“ Die Kinder, die überall herumwuseln, betrachten neugierig die Alten, die mit schmerzenden Gelenken auf der Ofenbank hocken. Da sitzen sie „in ihrer Vergänglichkeit“ und träumen und vergessen und schrecken nur selten hoch: „Vom Frühling wollten wir träumen, dann doch eingeschlafen.“ Zur natürlichen Zeit gehört das Altern und der Tod; schon die Kinder wissen, dass später einmal sie die Alten sein werden.

Doch neben diesem ewigen Rhythmus von Jahres- und Lebenszeiten erleben die Dorfbewohner das Hereinbrechen einer anderen Epoche. Sie kommt mit der Arbeit im Hüttenwerk und in der Holzindustrie. Die „Jahreszeitarbeit“, deren Tempo durch ruckende Ochsenkarren bestimmt war, wird mehr und mehr durch die „neue Zeit“ mit ihrem „eiligen Fabrikschritt“ ersetzt. Diese Zeit misst sich in Stunden und Arbeitsschichten und Lochkarten. Glichen sich früher die Jahre, so gleichen sich jetzt, was schlimmer ist, die Tage. Damit wächst auch auf dem Land eine Natursehnsucht als Sehnsucht nach der Vergangenheit – wohl wissend, dass es damals auch nicht besser gewesen ist.

Den Großstadtmenschen, den es aufs Land zieht, lockt diese andere Zeit, die nicht nach Stunden gemessen wird. Die Natur soll ihm Vergangenheit als Gegenwart liefern. Die Landkommunen der 70er Jahre und der alternative Landbau von heute sind Versuche, eine natürliche, zyklische Wirtschaftsweise zu etablieren. Dann bestimmt der zu- und abnehmende Mond Aussaatzeiten und nächtliche Erntestunden. Auch dass der Kampf gegen Atomkraftwerke sich auf dem Land abspielt, ist kein Zufall. Die Meiler ersetzen die Weiler; deren exponierte Lage macht die Diskrepanz zwischen Hochtechnologie und Naturzustand sinnfällig. Der Atommeiler, der wie ein gestrandetes Raumschiff zwischen Kuhweiden schlummert, ist deshalb eine besondere Obszönität. Die Traktoren aus dem Wendland, die gelegentlich durchs Berliner Regierungsviertel rollen, drehen dieses Verhältnis um und demonstrieren die Kraft des Elementaren. Irgendwann –das weiß der Großstadtmensch genau – schlägt die Natur zurück. Denn die Natur ist ja nicht blöd.


VI.

Landliebe ist nachhaltig. Sie wirkt weit über das Leben hinaus. Naturfriedhöfe in natürlicher Landschaft liegen im Trend. Auch die Toten möchten den Mauern der Stadt entkommen und sehnen sich nach freiheitlichen Liegeplätzen. So bietet der „Ruhe-Forst Nauen“ dem toten Großstadtmenschen ein „Laubwaldgebiet, welches sich weitgehend ungestört zum Urwald entwickeln darf.“ 160 Jahre alte Eichen- und Buchenbestände sind ihm dort versprochen; entsprechend wird „die letzte Ruhestätte nicht Grab, sondern Ruhe-Biotop genannt.“ So lässt sich der Großstadtmensch die Ewigkeit gefallen. Er kehrt heim, ins Biotop. Ob Ernst Jandl diesen Brauch schon vorausgeahnt hat, als er sein „Sommerlied“ schrieb? In seinen Versen kommt alle Naturseligkeit endgültig zu sich selbst: „wir sind die menschen auf den wiesen / bald sind wir die menschen unter den wiesen / und werden wiesen, und werden wald /das wird ein heiterer landaufenthalt“.

Text: Jörg Magenau

Bild  (Ausschnitt): Spaziergang im Frühling (Hans Andersen Brendekilde 1903, Öl auf Leinwand)