Als besonderes Kennzeichen einer lebendigen Demokratie gilt die Meinungsvielfalt. Demokratisch ist es demnach, wenn Krethi und Plethi, aus denen das Volk seit griechischen Urzeiten besteht, eine eigene Meinung nicht nur haben, sondern auch ganz laut äußern dürfen. Ob jemand etwas von der jeweiligen Sache versteht oder nicht, ist unbedeutend. Wichtig ist allein der Tatbestand des massenhaften Meinens, des unendlichen Für und Wider, oder des Rauf und Runter, wie im Fall des neuen Stuttgarter Bahnhofs. „Bild Dir Deine Meinung“ – der Werbespruch der Bild-Zeitung knüpft an dieses demokratische Urprinzip an, und Prominente wie Veronica Ferres, Philipp Lahm, Thomas Gottschalk oder Richard von Weizsäcker beteiligten sich ohne erkennbare Bedenken an dieser Kampagne, indem sie ihre Meinungen über die Bild-Zeitung der Bild-Zeitung für Werbezwecke zur Verfügung stellten.
Auch Judith Holofernes, Sängerin der Band „Wir sind Helden“, äußerte nun ihre Meinung zu Bild. Das Ansinnen der Werbeagentur hat sie allerdings mit einem geharnischten Absagebrief beantwortete, den sie auch gleich auf ihrer Homepage veröffentlichte. Genutzt hat es ihr nichts, denn der böse Brief ist trotzdem unter dem Label der Bild-Zeitung zur Anzeige geronnen. Ist ja auch nur eine Meinung, soll das heißen, und Bild demonstriert damit Toleranz und die Arroganz der Macht. Man muss Bild nicht mögen, nur eine Meinung muss man haben, um ins Bild-Universum zu passen.
Das beweist aber auch, was die Zeitung von Meinungen hält: Nämlich gar nichts. Und wenn’s drauf ankommt, wie im Fall Guttenberg, hilft Bild mit der richtigen Meinung nach und bringt nur die für den Minister positiven Umfrageergebnisse groß raus. Die Bild-Leser wissen selbst ganz genau, dass ihnen ihre Meinung so wenig nutzt wie die Erhöhung der Hartz IV-Sätze um acht Euro. Wenn irgendwelche Leute auf der Straße oder am Zeitungskiosk irgendwelchen weltpolitischen Unsinn erzählen, beschließen sie ihre Tiraden gerne mit dem alles entschuldigenden, aggressiv-hilflosen Zusatz: „Das ist meine Meinung.“ Das ist das Niveau, auf dem Meinungen hierzulande angekommen sind.
Wer nichts anderes hat, als eine Meinung, ist zu bedauern – Wissen zum Beispiel, oder Bildung, um von Erkenntnis oder gar Wahrheit ganz zu schweigen. Der Fall Guttenberg macht deutlich, welche Verachtung die Propagandisten des Meinens dem Bereich der Bildung entgegenbringen: Eine Dissertation darf man in Zukunft für eine zusammengegoogelte Angeberei halten, das ist ihre Meinung. Deshalb ist es so bedenklich, wenn die Bild-Zeitung als Zentralorgan der Politik wahrgenommen und von Politikern geradezu unanständig hofiert wird. Oder wie sonst soll man es nennen, wenn ausschließlich die Guttenberg-getreue Bild-Zeitung mit gut bezahlten Anzeigen des Verteidigungsministeriums belohnt wird, um für die Soldatenausbildung in der zukünftigen Berufsarmee zu werben? Sollen Soldaten sich etwa auch eine eigene Meinung bilden? Eine Armee von Bild-Lesern? Da kommt was auf uns zu.
Text: Jörg Magenau
Hintergrund:
- Sibylle Lewitscharoff: Das Pfingstwunder - 6. September 2016
- Elias Canetti: Das Buch gegen den Tod - 25. Dezember 2014
- Ernst Jünger: Feldpostbriefe an die Familie 1915-1918 - 9. November 2014
Schreibe einen Kommentar