Protest ist ein zartes und vergängliches Gewächs. Ganz egal wie berechtigt, wie rabiat oder gar gewalttätig er auch hervorbrechen mag, hat doch jeder Protest damit zu kämpfen, dass er nicht auf Dauer angelegt ist, sondern vom Rausch des Augenblicks genährt wird. Das gilt für die Demonstrationen in Ägypten ganz genauso wie für die Proteste auf dem Stuttgarter Bahnhofsvorplatz, auch wenn die beiden Ereignisse in ihrer welthistorischen Relevanz ansonsten wohl eher nicht vergleichbar sind. In beiden Fällen tritt jedoch früher oder später ein Gewöhnungseffekt ein, der den gerechten Zorn der Beteiligten durch nichts als die verstreichende Zeit in ein schlecht gelauntes Genörgel verwandelt, und die zunehmend gelangweilten Beobachter wieder zur Tagesordnung übergehen lässt. Den Machthabern erlaubt das wohltätige Verstreichen der Zeit, die Ereignisse auszusitzen. Machterhalt ist ja – wie die Kohl-Merkel-Schule vorbildlich beweist – nichts anderes als die Kunst des Aussitzens und Abwartens. Wer erst einmal begriffen hat, dass Vergänglichkeit eine Ressource ist, die sich für die eigene Dauer nutzen lässt, muss eigentlich gar nichts mehr tun. Das gilt für Mubarak ebenso wie für Mappus, auch wenn die beiden Präsidenten in ihrer welthistorischen Relevanz ansonsten wohl eher nicht vergleichbar sind.
In Stuttgart sind die Proteste wieder aufgeblüht, weil ein paar Bäume vor dem Bahnhofsgebäude nicht etwa gefällt, sondern umgesetzt werden sollten. Denn so sieht es der Schlichterspruch des alten Weltweisen Heiner Geißler als ein Resultat des Runden Tisches vor, an dem Gegner und Befürworter der Bahnhofstieferlegung im Dezember weitgehend ergebnislos zusammensaßen. Das Verfahren diente in erster Linie dazu, die Zeit möglichst konsequenzlos verstreichen zu lassen. Tatsächlich hat inzwischen die unvermeidliche Gewöhnung eingesetzt, und der unbeteiligte Beobachter erinnert sich mit leiser Rührung daran, dass es den Bahnhofsprotest ja auch noch gibt. Aber hat er denn noch einen Sinn? Geht nicht sowieso alles seinen Gang?
Seltsam: In der Sache hat sich seit Herbst nichts verändert. Im Gegenteil: Ereignisse wie das Zugunglück in Sachsen Anhalt oder das Berliner S-Bahn-Winter-Desaster haben mehr als deutlich aufgezeigt, dass die Bahn erst einmal ihre Gleise und Züge in Ordnung bringen sollte, bevor sie Milliarden in teuren Großprojekten versenkt. Der Protest wirkt aber trotzdem ein wenig angewelkt. Nicht weil er falsch geworden wäre, sondern einfach nur deshalb, weil er schon so lange dauert. Auch in Kairo werden die Proteste naturgemäß nicht ewig dauern. Je länger dort tagtäglich Hunderttausende demonstrieren, umso vergeblicher wird ihre Dauerpräsenz sein. Denn mit jedem Tag weiß ja auch Mubarak noch besser, dass er das aussitzen kann, den Vielen zum Trotz. Die Demonstranten müssen sich dann etwas anderes ausdenken. Am besten, sie statten Mubarak einen Besuch ab und tragen ihn auf seinem Thron vor die Tür. So ähnlich können es die Schwaben mit Mappus ja auch machen, bei der Wahl im März.
Text: Jörg Magenau
- Sibylle Lewitscharoff: Das Pfingstwunder - 6. September 2016
- Elias Canetti: Das Buch gegen den Tod - 25. Dezember 2014
- Ernst Jünger: Feldpostbriefe an die Familie 1915-1918 - 9. November 2014
Schreibe einen Kommentar