Nachrichten sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Oder waren sie immer so? Bunte Knallbonbons mit der grellen Aufschrift „sensationelle Neuigkeit“, in denen sich aber bloß hundertmal wiedergekäute olle Kamellen befinden. Darüber muss man sich nicht wundern, da ja Nachrichten bekanntermaßen Waren sind, also möglichst billig hergestellt werden. Sie versprechen Information und Unterhaltung und wollen mit Aufmerksamkeit und Quote bezahlt sein. Wundern muss man sich aber darüber, dass das alte Zeug von der Öffentlichkeit, also den zahlenden Konsumenten, immer wieder so verblüfft zur Kenntnis genommen wird, als höre man davon tatsächlich zum allerersten Mal. Dass es im Winter frostig werden kann, scheint sich inzwischen sogar bei der S-Bahn herumgesprochen zu haben. Wissen könnte man auch, dass bei Regen und Tauwetter Flüsse zu Hochwasser neigen – und doch ist das Erstaunen immer wieder groß. Es ist auch nicht wirklich eine Überraschung, zu erfahren, dass in unseren Lebensmitteln allerhand Gifte herummäandern. Wenn die Lebensmittelherstellung als industrielle Massenproduktion betrieben wird, dann ist es doch nur konsequent, dass ins Viehfutter auch Industriefette hineingerührt werden. Tiere sind Maschinenteile, das ist doch bekannt, und jeder, der sein Kilo Hackfleisch für 2 Euro 78 erwirbt, billigt das auch.
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Der medial herbeigerufene Wutbürger wendet
sich immer nur gegen anders zu regelnde Details
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Nun herrscht große Aufregung um das Marineschulschiff „Gorch Fock“, das so „skandalumwittert“ durch die Nachrichten segelt wie einst der fliegende Holländer. An Bord sollen Alkoholexzesse stattgefunden haben! Unfassbar! Als ob bei der Armee nicht schon seit Jahr und Tag gesoffen würde bis zur Gehirnerweichung. Man kann zum Beispiel die Tagebücher von Ernst Jünger aus dem ersten Weltkrieg lesen, um eine Ahnung von soldatischem Alkohol- und Betäubungsmittelbedarf zu erhalten. Man muss auch nicht selbst gedient haben um zu wissen, dass militärischer Drill gelegentlich in Schikanen ausartet. Brüllende Unteroffiziere, die ihre Rekruten 50 Liegestütze in Schlammpfützen machen lassen, gehören doch zur obligaten Grundausbildung. Sich darüber erst dann zu empören, wenn eine junge Kadettin vom Mast eines Schiffes fällt und stirbt oder ein Soldat in Afghanistan einen anderen aus Versehen erschießt, ist auch nicht klüger, als sich über das Dioxin im doch sowieso ganz und gar verkommenen Essen aufzuregen.
Nachrichten dieser Art produzieren systematisch Wut und Empörung. Sie richten die Wut aber auf die falsche, weil viel zu kleine Stelle. Der medial herbeigerufene Wutbürger wendet sich ja nicht gegen das falsche System, sondern immer nur gegen anders zu regelnde Details. Bessere Kontrollen, höhere Grenzwerte, leisere Flugrouten: Darüber lässt sich bei Anne Will und Maybritt Illner trefflich streiten. Unterdessen geht aber alles unverändert immer so weiter. Bis zum nächsten Winter, zum nächsten Lebensmittelskandal und dem nächsten toten Soldaten. Und wir werden uns wieder empören, als wüssten wir von nichts. Wir sind doch nicht blöd!
Text: Jörg Magenau
gesendet rbb-Kulturradio, 26.01.2011
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