(geschrieben im Januar 2011)

Die Schwäche der italienischen Gesellschaft – für Berlusconi

„Das Land ist verrückt geworden!“ Mit diesen Worten reagierte Ministerpräsident Romano Prodi im Herbst 2006, wenige Monate nach seinem äußerst knappen Wahlsieg, auf den massiven Widerstand in der Bevölkerung gegen den Sparhaushalt der Mitte-links-Regierung. Möglicherweise sprach der Stoßseufzer für Prodis finanzpolitischen Sachverstand – unter der Regierung Berlusconi war der ohnehin hohe Schuldenberg Italiens noch einmal kräftig angewachsen, die Maastricht-Grenze von drei Prozent, trotz oder gerade wegen der von Finanzminister Tremonti erlassenen Steueramnestien, bei weitem überschritten worden. Leider aber verriet er vor allem etwas über die verheerende Unfähigkeit des ehemaligen Christdemokraten, seine Politik zu verkaufen – oder wie der Neusprech-Euphemismus will: zu kommunizieren.

Prodis Beschimpfung des eigenen Landes war freilich nicht nur ein Beleg für die Nervosität im Regierungslager, das einem zusammengewürfelten, disziplinlosen, nur aufs Partikularinteresse – der jeweiligen Partei, der persönlichen Ambition – schielenden Haufen glich. Spätestens seit dem erneuten und überwältigenden Wahlsieg Silvio Berlusconis im Mai 2008 könnte man seinem gescheiterten Vorgänger auch einen unglücklichen Hang zur Wahrheit attestieren und – weise Voraussicht. Italien scheint in der Tat verrückt geworden zu sein.

Denn wie ist es sonst zu erklären, dass es sich ein drittes Mal in die Arme des gnadenlosen Populisten und erfolgreichen Unternehmers warf, der mit seinem Spitzbubengrinsen an den von Robert de Niro verkörperten Al Capone erinnert? Bereits bei Gründung seiner Bewegung Forza Italia verhehlte der Medienzar nicht, dass es sich bei seinem Eintritt in die Politik um eine Flucht nach vorn handele: „Wenn ich mich neuerdings für das politische Leben interessiere, dann deshalb, weil ich weiter als Unternehmenschef tätig sein und nicht ins Gefängnis wandern will.“

Seit jener Zeit, Ende 1993, hat sich an diesem Motiv eigentlich nichts geändert. Obwohl Berlusconi inzwischen durch ein maßgeschneidertes Immunitätsgesetz vor Strafverfolgung sicher ist, ist ihm inmitten von Finanz- und Wirtschaftskrise kein Vorhaben wichtiger als das einer Justizreform, mit der die Unabhängigkeit der Judikative beschnitten werden soll. Während er die Folgen des globalen Finanzdebakels herunterspielt – „unsere Wirtschaft wird in diesem Jahr um zwei Prozent schrumpfen, das heißt, wir kehren auf das wirtschaftliche Niveau von vor zwei Jahren zurück, und mir scheint, da ging es uns nicht schlecht“ –, betreibt er eine Kampagne für ein weit reichendes Verbot der Telefonüberwachung. Dabei geht es dem selbsternannten Liberalen weniger um Bürgerrechte oder Datenschutz, als darum, erstens sich selbst und zweitens die politische Kaste im Ganzen vor Ermittlungen und Prozessen zu bewahren: Und das ausgerechnet in einem Land, in dem die Politik besonders korruptionsanfällig oder sogar mit dem organisierten Verbrechen verflochten ist.

Wie aber kann die Mehrheit der Italiener einem Mann vertrauen, der sich nicht an die demokratischen Spielregeln hält – und das gilt nicht nur für Berlusconis Geringschätzung für die anderen Gewalten im Staat?

Vor Ablauf seiner zweiten Regierungszeit, 2006, ließ er von seiner Mehrheit ein neues Wahlgesetz verabschieden, um die sich abzeichnende Niederlage, wenn nicht zu verhindern, so doch zu begrenzen. Sinn des Gesetzes, das selbst sein Erfinder Calderoli von der Lega Nord eine „Schweinerei“ nannte, waren instabile Verhältnisse. Und die Rechnung ging auf: Prodi konnte zwar auf Messers Schneide regieren – aber nur für knappe zwei Jahre. In diesen zwei Jahren beschuldigte der um ein paar zehntausend Stimmen unterlegene Berlusconi seine Gegner permanent des Wahlbetrugs. Dabei war er selbst während der Wahl Regierungschef und der Innenminister sein enger Parteifreund gewesen. Aber im Trommelfeuer der Propaganda verwandelte sich Prodi in einen Lukaschenko oder Mugabe, während Berlusconi mehr und mehr wie sein bedauernswertes Opfer aussah.

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Wie kann die Mehrheit der Italiener diesem

kleinen Mann mit dem Riesenego zu Füßen liegen

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Warum stört sich die Mehrheit der Italiener nicht an Berlusconis zweifelhaftem Demokratieverständnis? Weil sie selber nicht viel von Regeln hält?

Meno male che Silvio c’e! Nur gut, dass es Silvio gibt!, lautete der Wahlslogan von 2008. Wie kann die Mehrheit der Italiener diesem kleinen Mann mit dem Riesenego zu Füßen liegen, der gern geschmacklose und sexistische Witze reißt – „Ich weiß inzwischen, was der G-Punkt bei den Frauen ist: der letzte Buchstabe des Wortes shopping“ –, sich mehrfach liften ließ und einer Kopfhauttransplantation unterzog, damit er keine Glatze hat??

Da hatte die rechte Opposition die Mitte-links-Regierung vor sich hergetrieben, als es in der Hauptstadt zu Vergewaltigung und Totschlag einer Frau durch einen rumänischen Roma kam. Kaum an der Macht, schickte Berlusconi ein paar tausend Soldaten in die italienischen Städte, „um die Sicherheit zu gewährleisten“ – und kürzte gleichzeitig Stellen bei der Polizei. Als in diesem Winter erneut eine Römerin durch vier Rumänen vergewaltigt wurde, spielte er den Vorfall herunter: „Wir müssten so viele Soldaten haben, wie es schöne italienische Frauen gibt, ich glaube, das schaffen wir nie. Auch in einem Polizeistaat wird es solche Fälle immer geben.“ Die wütende Kritik der Linken parierte er mit dem Bekenntnis: „Man darf nie, bei keiner Gelegenheit, den Sinn für die Leichtigkeit und den Humor verlieren.“

Sieht die Mehrheit der Italiener das genauso? Wenn man sich vor Augen führt, dass die vier Vergewaltiger bei ihrer Verhaftung durch die Menge beinahe gelyncht wurden, könnte man meinen: nein. Trotzdem scheinen der vulgäre „Humor“ des Regierungschefs und die Rachlust des Mobs nur zwei Seiten derselben Medaille zu sein: des Instinkts, der reinen Unmittelbarkeit. Auch die rassistischen Banden, die nach der Vergewaltigung unbeteiligte Albaner und Rumänen verprügelten, gingen nicht aus weltanschaulichen Gründen gegen die Fremden vor. Denn die Xenophobie verdankt sich primitiven, atavistischen Reflexen, keiner vermittelten rationalen Leistung.

So scheint die Mehrheit das Skandalon der Parallelwelten – dort die Macht, der Führer; hier die Ohnmacht, das Volk – akzeptiert zu haben. Dem König („Re Silvio“), was des Königs ist: Leichtigkeit, Humor, Gelächter – uns der Hass, die Anarchie der blinden Wut, der Übergriff auf die Fremden.

Was diesem Kosmos wesentlich ist, ist seine Oberfläche. Befördert von einer Tradition, die der Äußerlichkeit hohen Rang einräumt, was sich nicht nur an den Leistungen der Italiener im Bereich von Mode oder Design erkennen lässt, sondern auch am Stellenwert, den die vergötterte bellezza im Alltag besitzt, wird die Oberfläche zur letzten Botschaft. Dahin gehören das Lifting, die Kopfhauttransplantation und die hohen Absätze des Regierungschefs. Dahin gehört aber auch die Wahlwerbung eines Roberto Benigni („La vita è bella!“) für den Gegenkandidaten Berlusconis bei der Wahl 2001, Francesco Rutelli. Nach den Qualitäten seines Favoriten befragt, verwies Benigni auf Rutellis äußerliche Vorzüge: „Lui è bello, proprio bello“ („er ist schön, wirklich schön“). Zur Macht der Oberfläche gehört das Berufsideal sehr vieler Mädchen und junger Frauen, es als hübsche Showtänzerin oder strahlende Assistentin des Moderators zum Fernsehsternchen zu bringen. Und in der medialen Inszenierung, von der gerade der Medienmogul besonders viel versteht, wird die zu vulgärem Glamour und obszönem Glanz verkommene Schönheit zur entscheidenden Message. Das strahlt auf die politische Botschaft aus. Wie das Versprechen oder die Ankündigung präsentiert und inszeniert wird, ist von größerem Gewicht als ihre Substanz. Nicht, ob ihnen Taten folgen, ist wichtig, sondern ob sie mediale Evidenz haben.

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Nachweislich erzielt Berlusconis Wirtschaftsimperium immer

dann die besten Ergebnisse, wenn der Chef an der Regierung ist

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Sind das die beiden Pole der italienischen Gesellschaft: Die Schöne und das Biest, die Oberfläche und der Instinkt? Die Italiener nehmen es dem „Mann des blauen Himmels“ jedenfalls nicht übel, wenn hinter seiner „Leichtigkeit“, seinem sonderbaren senso di umore, kaum verhohlen der Hohn hervorgrinst. Sie scheinen immun gegen die Verachtung, die er gegenüber ihren Nöten zeigt. Wirtschaft sei zu überwiegendem Teil Psychologie, und wenn sich der Durchschnittsitaliener von den Kassandrarufen der Opposition nicht beeindrucken lasse, sondern fleißig Geld ausgebe, werde man die Krise schon meistern, ließ Berlusconi verlauten. „Spendet! Spendet!“ rief König Silvio seinen Untertanen zu, „Gebt Geld aus! Kauft ein!“ Ob die Italiener denn auch das nötige Kleingeld haben, um es ausgeben zu können, diese Frage scheint ihm gar nicht in den Sinn zu kommen. Aber warum sollte sich ein Milliardär, der gerne damit kokettiert, nie bares Geld bei sich zu führen, dafür auch interessieren?

Doch wenn Italien seinem Herrn und (Hexen-)Meister nichts verübelt, weder die Regelverletzungen, die Entleerung des Politischen zur reinen Show, noch sein Unverständnis gegenüber den Alltagssorgen der Menschen, das gelegentlich in pure Verachtung umschlägt, ja, wenn Italien, zusammen mit dem Padrone, herzlich über sich selber lacht, „weil man nie, bei keiner Gelegenheit, die Leichtigkeit und den Humor verlieren darf“, so als ob das ganze Land in den ästhetischen Zustand der Ataraxie verfallen sei, in der sich noch die größte Tragödie als Komödie entlarvt, frei nach dem Motto des Cavaliere: „Es zirkulieren ja auch über den Holocaust zahllose kleine Scherze, die Italiener können eben über Tragödien lachen“ – wenn also die Italiener ihrem Mann an der Spitze all das nicht krumm nehmen, so müssten sie doch in den mehr als 15 Jahren seiner politischen Existenz erkannt haben, dass er sie als Geiseln seines privaten Interesses betrachtet.

Da ist seine grenzenlose Sucht nach Anerkennung, typisch für den Aufsteiger, der es vom schmalzigen Entertainer zum Milliardär brachte. Ob es die Liebe zur Macht ist oder eher der mächtige Drang, geliebt zu werden – beides unterscheidet Berlusconi noch nicht vom Typus des egomanen Politikers, der von seinen Umfragewerten besessen bis besoffen ist. Anders verhält es sich mit seinen ökonomischen Interessen: Nachweislich erzielt Berlusconis Wirtschaftsimperium, allen voran Mediaset, immer dann die besten Ergebnisse, wenn der Chef an der Regierung ist. Und anders auch mit dem Interesse, vor strafrechtlicher Verfolgung geschützt zu bleiben, das ihn erst in die Politik eintreten ließ. Da hämmerten er und seine Medien bei jeder neuen Ermittlung, jedem neuen Verfahren, das man gegen ihn anstrengte, den Italienern ein, er werde als Politiker verfolgt, von den Kommunisten, den „roten Roben“ und Jakobinern, ungeachtet der Tatsache, dass es sich um Prozesse gegen die zweifelhaften Geschäfte des Unternehmers handelte.

Doch auch der eklatante Interessenkonflikt scheint den Italienern nichts auszumachen. Von der politischen Agenda ist das Thema bereits seit geraumer Zeit verschwunden. Berlusconi muss nicht einmal mehr das Versprechen abgeben, das er sowieso nie gehalten hat, Mediaset einem unabhängigen Treuhänder zu überlassen. Hingegen ermuntert er auf einer Pressekonferenz zur Finanzkrise seine Landsleute, Aktien zu erwerben, denn erstens seien die gerade günstig und zweitens stütze man damit die Börse – und empfiehlt bei dieser Gelegenheit auch gleich noch die Aktien des eigenen Medienkonzerns.

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Der Berlusconismus ist der Populismus der Monaden,

und Berlusconi ist das personifizierte Partikularinteresse

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Die Italiener haben sich längst an das alles gewöhnt: An Berlusconis Obsessionen, seine Wutausbrüche gegen die Opposition, die es einfach nicht lassen kann, ihn zu kritisieren, dann wiederum seine gute Laune, seine vulgären Sprüche, seine verbalen Ausrutscher – von denen er umgehend behauptet, sie seien missverstanden worden oder nichts als eine Erfindung der internationalen linken Presse –, seine Selbststilisierungen zum Opfer, seinen Größenwahnsinn, ja, auch an die Tatsache, dass der erste Mann in der Regierung eben zuerst an sich selbst denkt. Sie haben sich so sehr an ihn gewöhnt, dass nicht Berlusconi aus der Mode gekommen ist, wie seine Gegner hofften, sondern lediglich der Anti-Berlusconismus. Dass der als Klammer des Ulivo-Bündnisses von der radikalen Linken bis zum rechten Zentrum kein politisches Projekt ersetzen konnte, ist eine der wenigen Lehren, die Italiens Linke aus dem Scheitern der Prodi-Regierung zog und ziehen musste.

Möglich ist die Dominanz Berlusconis aber nur, weil er ein gesellschaftliches Ideal verkörpert. Alle wollen Berlusconi heißen – oder zumindest die Mehrheit der Italiener. Die Identifikation funktioniert perfekt, weil auch der so genannte „Mann auf der Straße“ nichts als sein Partikularinteresse im Sinn hat. Man selber hält es ja nicht anders: Im Kampfe aller gegen alle gilt es, das eigene Interesse durchzusetzen, möglicherweise das Interesse der Familie oder des Clans, höchstens noch das der Berufsgruppe, der man angehört, oder des Territoriums, dem man sich zurechnet.

Das ist aus dem gelegentlich verklärten Anarchismus der Italiener geworden. Das allgemeine Gesetz taugt nur dann etwas, wenn es mit dem eigenen Interesse übereinstimmt. Die Gesellschaft ist eine Ansammlung von Monaden, die Nation ein Flickenteppich aus Territorien und Regionen. Der Norden gegen den Süden, der Süden gegen den Norden, der Norden gegen die Hauptstadt („Roma ladrona“, Rom, die Diebin) – und der Süden wäre genauso romfeindlich, wenn er nicht am Tropf der Zentralregierung hinge. Aber auf Berlusconi können sich alle einigen, sowohl die Lega Nord als auch die sizilianische Bewegung für Autonomie: Denn wer stellt den Egoismus überzeugender dar als der Cavaliere an der Macht! Paradox hält er in seiner Person und Funktion die zentrifugalen Kräfte zusammen. Und hat sich, um an der Macht zu bleiben, die Föderalismusreform auf die Fahnen geschrieben, die nie auf seiner Agenda stand.

Der Berlusconismus ist der Populismus der Monaden, und Berlusconi ist das personifizierte Partikularinteresse. Niemand repräsentiert die zerfallende Gesellschaft besser als er. Eugenio Scalfari, Gründer und langjähriger Herausgeber der Repubblica, nannte sie einen zersprungenen Spiegel. Aber wenn die Italiener in den zersprungenen Spiegel ihrer Gesellschaft schauen, blickt sie Silvio Berlusconi an – in all seinen Facetten. Meno male che Silvio c’e!

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Die Stärke des Berlusconismus ist die moralische,

soziale und politische Schwäche der italienischen Gesellschaft

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Berlusconi und Italien funktionieren seit anderthalb Jahrzehnten wie kommunizierende Röhren. Im Verlauf seiner zweiten Regierung (2001–2006) hat er mit einer Politik jährlicher Amnestien für Steuersünder, durch die nachträgliche Legalisierung von Villen oder Häusern, die in landschaftlich geschützten Gegenden errichtet wurden, durch die Straffreiheit für Bilanzfälschung et cetera, vor allem aber durch das schlechte Beispiel des Interessenkonflikts, der zur Normalität wurde, die ohnehin schon schwache Moral seiner Landsleute – Voraussetzung für seine Wahlsiege – noch einmal empfindlich geschwächt.

Bereits Leopardi nannte das italienische Volk „das zynischste“ unter den Völkern. Auch wenn diesem harten Urteil die enttäuschte Liebe des Romantikers zu seinem Land abzulauschen ist – wahr daran ist, dass sich auf dem Treibsand der durch die Kirche verbreiteten Doppel-Moral nie eine feste Burg der Moral bauen ließ. Ein liberales Bürgertum bildete sich nur in wenigen Zentren des Nordens aus. Es fehlte ihm an der erforderlichen Stärke, um die kulturellen und ethisch-moralischen Folgen der gesellschaftlichen Verwerfungen auszugleichen, die erst der Faschismus und dann der ökonomische Boom mit sich brachten. Bereits einer der katholischen Gründerväter der Nachkriegsdemokratie hatte beklagt, dass es bisher immer zwei italienische Staaten gegeben habe, den legalen Staat und den realen Staat. Und daran änderte sich nichts, als das Agrarland in atemberaubendem Tempo zur Industrienation wurde. Dieser Zeit des ökonomischen Booms verdankt sich eine Klasse von Aufsteigern, denen Pier Paolo Pasolini bereits in den Siebzigerjahren eine durch und durch künstliche, wenig gefestigte „Plastikidentität“ bescheinigte.

Silvio Berlusoni ist ihr Prototyp. In ihm vereinen sich der kulturell entwurzelte mit dem neureichen Erfolgs-Menschen, die Halbbildung mit der Schläue, die Verhaltensunsicherheit mit dem autoritären Stil des alten patronalen Systems. Ethisch-moralische Grundsätze kennt dieser Prototyp nicht. Und so verkörpert er den historischen Kurzschluss zwischen dem ausgeprägten Individualismus eines Volkes, das sich auf den Staat und seine Institutionen nie verlassen konnte, mit der Erfahrung der Vereinzelung und des Monadentums in der Massengesellschaft.

Gewiss, es gibt sie noch, die Arbeitskämpfe und Generalstreiks, die entfernt an die solidarischen Bewegungen, das Klassenbewusstsein, die starke kommunistische Partei der Nachkriegsjahrzehnte erinnern. Doch schon der letzte große – und erfolglose – FIAT-Streik, Anfang der Achtzigerjahre, oder der verlorene Kampf um die scala mobile (mit der die Löhne automatisch an die Inflationsrate angeglichen wurden) sangen diesen Bewegungen ihr Requiem. Unter dem Sozialisten Bettino Craxi wurde der arrivismo, das individuelle Streben nach Aufstieg, Geld und Macht, zur Ersatzideologie breiter Teile der Bevölkerung.

Längst waren die alten Ideologien zu leeren Hüllen geworden. Und als der reale Sozialismus implodierte, fehlten sowohl dem christdemokratischen Staat als auch seinen bislang so mächtigen Parteien die Geschäftsgrundlage. Dass sie durch und durch korrupt gewesen waren, beschleunigte nur ihren Niedergang, war aber nicht die Ursache für den Zusammenbruch des Parteiensystems. Von heute aus betrachtet war Mani pulite ein historischer Betriebsunfall, zu dessen Logik es gehört, dass die Italiener bereits 1994 einen engen Freund des geschmähten Craxi zum Regierungschef wählten: Silvio Berlusconi. Ein Betriebsunfall freilich, der die politische Klasse das Gruseln lehrte. Berlusconis Obsession für die Justiz verdankt sich dieser Erfahrung: Sie soll sich nie mehr wiederholen.

Die ideologischen Muster haben ausgedient. Das zeigen die Auflösung des einstmals starken PCI, dessen Mehrheit den sozialdemokratischen Weg einschlug, um weiter in die gesellschaftliche Mitte zu wandern, und die Zersplitterung der kommunistischen Folgeparteien. Selbst die jahrelang erfolgreiche Rifondazione comunista („Kommunistische Wiedergründung“) hat sich nach dem verpassten Einzug ins Parlament bei der Wahl 2008 noch einmal selbst zerlegt. Der Chef einer anderen kommunistischen Kleinpartei (PdCI), Oliviero Diliberto, machte den Verzicht auf die kommunistischen Symbole Hammer und Sichel für das Debakel der linken Regenbogenkoalition verantwortlich: Nostalgie statt Substanz, Trotz statt Analyse. Umso weniger verwundert, dass nicht wenige Arbeiter des Nordens, selber Mitglieder der größten, links stehenden Gewerkschaft CGIL, zuletzt ihre Stimme für die Lega Nord abgaben. Dieses Votum verdankte sich der Enttäuschung über die linken Kräfte in der Prodi-Regierung, aber auch der, wenn man so will, pragmatischen Entscheidung für das Partikularinteresse: Mit der Gewerkschaft gegen die Unternehmensleitung, mit der Lega gegen den Süden, die römische Bürokratie – und die Ausländer.

Von den Demonstrationen der frühen 2000er-Jahre, den girotondi, jenen Menschenketten um die Justizpaläste, die für den symbolischen Schutz eines unabhängigen Rechtswesens standen, ist weit und breit nichts mehr zu sehen. Ebenso wenig von den Demonstrationen jener Jahre gegen Berlusconis Gesetze ad personam. Die Welle des Protests der Studenten und Schüler gegen die Bildungsreform im vergangenen Herbst wurde durch die arrogante Weigerung der Regierung, über die Inhalte der Reform mit den Betroffenen zu sprechen, geradezu provoziert. Denn auch der Berlusconismus kann sich das Land nicht einfach einverleiben, ohne auf die jeweiligen Partikularinteressen zu achten. Was bisher die Bedingung seines Erfolgs war, die konkreten, unvereinbaren Partikularinteressen in der Idee des Partikularinteresses als letztem allgemeinen Wert zu vereinen, stellt auch seine Grenze dar.

Die Stärke des Berlusconismus ist die moralische, soziale und politische Schwäche der italienischen Gesellschaft. Und die hat, im Kampf aller gegen alle, eine sozialdarwinistische Schwäche für den Starken. Und wer könnte stärker sein als der, der ihre Schwäche wie kein anderer zu nutzen weiß: Meno male che Silvio c’e!

Nachtrag im Januar 2011: Oben stehender Text erschien im Mai 2009 in der Wiener Literaturzeitschrift Wespennest als einer von mehreren Beiträgen zu dem von mir herausgegebenen Schwerpunktthema „Italienische Verhältnisse“. Als ich ihn schrieb, wusste ich noch nichts von der durch Berlusconis Ehefrau Veronica Lario eingereichten Scheidung, der eine ganze Serie von Skandalen um den unbändigen sexuellen Appetit ihres (Ex)Mannes (vor allem auf Minderjährige) folgte. Doch auch diese Skandale überstand Berlusconi ohne größere Blessuren. Bei den Regionalwahlen 2010 konnte seine Partei Volk der Freiheit (zusammen mit Bossis Lega Nord)der römischen Opposition sogar eine Reihe von ihr bisher regierter Regionen entreißen. Die Kirche jedenfalls hütete sich davor, Berlusconi für sein Privatleben zu kritisieren, der in bioethischen Fragen – von der Euthanasie bis zur Stammzellenforschung – ihren Einfluss auf die Gesetzgebung garantiert. Und wo sie seinen Lebenswandel doch aufs Korn nahm, wie in der katholischen Zeitung Avvenire, wurde der Chefredakteur Dino Boffo durch Berlusconis Medien abgeschossen, die ihn als homosexuell denunzierten. Die Unterstützung, die Boffo durch den Klerus erhielt, war nicht nennenswert und konnte den verleumdeten Mann nicht retten. Was ein schöner Beleg dafür ist, dass der italienische Katholizismus nichts so sehr pflegt wie seine doppiezza (Doppelzüngigkeit) und seine Doppelmoral.

In den letzten Wochen und Monaten aber sind Berlusconi und seine Regierung tatsächlich in schweres Fahrwasser geraten, und es könnte durchaus sein, dass das Ende der Legislaturperiode bevorsteht. Indem er seinen langjährigen Wegbegleiter, den Post-Faschisten Fini, aus der Partei drängte, weil der dem Chef hier und da öffentlich zu widersprechen wagte, hat es Berlusconi geschafft, seine bis vor kurzem noch überwältigende parlamentarische Mehrheit einzubüßen. Bei der letzten Vertrauensabstimmung Mitte Dezember kam er auf gerade noch drei Stimmen Vorsprung, die er sich wohl mit beträchtlichen Summen bei Parlamentariern anderer Parteien zusammenkaufen musste.

Das Land ist seiner aber noch immer nicht müde. Bei Neuwahlen könnte Berlusconi wiederum die Nase vorn behalten, wenn auch knapper als das letzte Mal. Es ist vor allem ein Umfragedatum, dass die Schwäche der italienischen Gesellschaft für den Cavaliere erneut demonstriert: Obwohl seine Popularität erheblich gelitten hat, können sich 65% der Italiener (darunter auch viele, die ihn ablehnen) keinen anderen Regierungschef vorstellen. Somit bleiben die Schlussfolgerungen des Textes von 2009 bis auf weiteres aktuell.

 

Text: Jan Koneffke

Bild: edoardo baraldi via toonpool