BÜCHERBRIEF AN MARJA | 

liebe marja,

            elende tage: jetzt, wo zeit wäre – wegen ausgefallener lesungen, wegen weggebrochener aufträge, wegen gestrichener reisen –, kriegt man noch weniger gerichtet: als dehnten sich mit der zeit auch die bewegungen, so langhin, daß du sie als bewegung nicht wahrnimmst, genausowenig wie die auseinandertreibenden gedanken. der tag ist rum und nichts getan und das erschöpft mehr als jede arbeit. aber das ist nicht der grund, weshalb die rezension von der ‚offenen see‘ noch nicht bei dir gelandet ist. angefangen hatte ich: zu lesen, zwei seiten, die klangen gut. und das war ein irrtum. nicht: daß sie gut klangen, aber die annahme, es würde so weitergehen. was folgt, ziemlich umgehend, sind von übertriebenen bildern überwucherte seiten: da ziehen soldaten „lange dunkle schatten“ hinter sich her „wie leere särge“, da blüht der krieg „in ihren herzen, eine schwarze blume“, da sind „gähnende abgründe in der erde, offen und zerklüftet wie klaffende münder, aus denen riesige zähne gezogen worden waren“, und kriegsheimkehrer „mit fehlenden teilen wie gebrauchte puzzlespiele“: und all das dicht hintereinander, so schnell kannst du gar nicht lesen, wie dich das abwirft. dazu die häufung billigster klischees vom „sanften atem eines seufzenden nachmittagshimmels“ über den „schein des sterbenden feuers“, den „betörenden duft“, den „wispernden wiesen“ bis zu dem „aufgeregten blut“, das dem erzähler in den ohren „rauschte und brauste“. daß die daily mail dieses theatralische geschwafel (ah, ich hab noch was haarsträubend anstößiges vergessen: da schläft einer den „schlaf des gerechten“ hinter brombeersträuchern, „so undurchdringlich wie die stacheldrahtrollen in bergen-belsen“) als „tief empfunden und aufmerksam beobachtet“ anpreist, ist nur erklärbar mit dem verlorengegangenen gespür fürs angemessene – oder es liegt einmal mehr an einer völlig verhunzten übersetzung: und im englischen original ist der roman nur halb so verkorkst. kurz: keine besprechung von der ‚offenen see’.

            worüber ich hingegen geschrieben hätte, wäre die normalität nicht aus den fugen geraten: den schmalen essay von franzen, in dem er klar begründet, warum und wie wir’s versiebt haben: und daß die leugnung dessen, das verdrängen, mehr schaden anrichtet (und den untergang schneller herbeiführt) als das eingeständnis, dem sich dann immerhin noch ein ‚trotzdem‘ entgegensetzen läßt, das zum handeln, im kleinen und konkreten, zwingt. wenn ich noch mit denen reden würde, von denen ich mich ihrer bornierten haltung wegen und ihrer nähe zu abergläubischen zahlenfaschisten verabschiedet habe, würde ich ihnen dieses buch vor die füße knallen und fordern: aufheben. lesen. und endlich anfangen zu denken. bringt nix, ich weiß (und fängt schon damit an, daß sie eben das nicht mehr können: lesen: was wirklich dasteht. sie sehen paar buchstaben und spulen dann das dazu ab, was sie an voreinstellungen im hirn haben): aber manchmal verlangt es einen nach einer wilderen geste.

            das leben ist eh auf die nachtseite gekippt. berührungen, umarmungen: daß ausgerechnet die zeichen der zuneigung als gefahrenträger gebrandmarkt werden, hat was zerstörerisches, zutiefst menschenfeindliches. gab’s übrigens nicht mal einen, der hat, keine ahnung, in welchem zusammenhang, „küssen verboten“ gesungen (grad’ die blödesten lieder kriegste schwer wieder aus’m kopp). wirrsinniges zeugs, wo du hinhörst: in ‚kulturzeit‘ darf lionel shriver (ist eine sie: wollte männlicher klingen, als sie ursprünglich hieß: margaret ann), die wegen der einbußen der wirtschaft gegen die auferzwungenen einschränkungen ist (und man kann durchaus und sehr zu recht gegen die – oft überzogenen, oft mit unverstand getroffenen – maßnahmen sein) unwidersprochen verkünden, es gäbe immer mal wieder zeiten: da sterben eben paar menschen mehr. scheint sie nicht zu scheren, welche menschen vor allem das sind, wo und unter welchen umständen. oder sie ist, ganz im gegenteil, ein sprachrohr derer, denen der massenweise tod der indigenen, schwarzen, unterversicherten, in elendsvierteln und unter elenden bedingungen lebenden durchaus gelegen kommt. jedenfalls muß man von einer autorin, die derart unüberlegt vom leder zieht, in zukunft keine zeile mehr lesen.

            und noch etwas, von dem ich dachte, es könnte sich lohnen – das buch, in dem schriftsteller über ihre arbeit an schreibtischen reden–, hat sich als belanglos erwiesen. das liegt nur teilweise an der nicht eben berückenden auswahl, das liegt hauptsächlich am herausgeber. er fragt wie ein deutschlehrer, wie ein verbeamteter deutschlehrer, heißt: er fragt phantasielos, mechanisch, am wesentlichen vorbei: und genauso haben sie ihm geantwortet. also lesen sich die meisten interviews, als hätten die autoren in einem nicht sonderlichen angeregten zustand oder in einer phase, in der sie gerade mit etwas anderem beschäftigt waren (doch aufs mitmachen wollten sie offenbar auch nicht verzichten), unaufmerksam ein paar fragebögen zur statistik ausgefüllt. am interessantesten ist noch terézia mora mit ihrer furcht vor zu großen ordnungen, die mayröcker ist natürlich ein unikum (wie gern würde ich endlich den dokumentarfilm von carmen tartarotti über die dichterin in ihrer kraut und rüben-klause zu fassen kriegen), und frau pehnt in ihrer penetranz, mit der sie nochmal und nochmal speichelnd auf handkes schreibtisch verweist, ist nahezu unerträglich: soll sie doch rundheraus fragen, ob sie ihn haben kann, anstatt so verdruckst rumzuwebern. nein, kampa hat bessere besser zu wort kommen lassen: vor allem in der grandiosen salon-reihe. da warte ich auf die neuen: und werde dann bei dir vorstellig. falls es so etwas wie kultur beim hr dann noch gibt.

 

sei einstweilen – und gerade in diesen zeiten – umarmt

ingrid

 

© 2020 ingrid mylo

ganz oben: (Ausschnitt Cover) Benjamin Myers: Offene See | © Dumont

 

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Benjamin Myers: Offene See

aus dem Englischen von U. Wasel & K. Timmermann

Dumont 2020

267 S. | € 20,-

 

 

 

 

 

 

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© Kampa

Klaus Siblewski (Hg):

Es kann nicht still genug sein

Schriftsteller sprechen über ihre Schreibtische

Kampa 2020

255 S. | € 24,-

 

 

 

 

 

 

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© Rowohlt

Jonathan Franzen:

Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?

aus dem Englischen von Bettina Abarbanell

Rowohlt 2020

60 S. | € 8,-

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