Eine Zickzackform aus Stahl aus einem Sockel. In dem kleinen Maçka Sanatçılar Parkı im Istanbuler Norden stehen sonst nur bemooste Büsten von Herrschern aus der anatolischen Frühzeit, Spaziergänger ruhen sich aus, Katzen dösen. Umso verdutzter betrachteten vergangene Woche die Passanten in der kleinen Großstadtoase Tony Craggs Arbeit „Red Figure“ – eine fast schon futuristische Mischung aus Abstraktion und Figuration: halb Gesicht, halb Tornado.
Das „Fünfte Element“ hat die Istanbuler Kunstmesse „Contemporary Istanbul“ den harmlosen Skulpturenparcours betitelt, den sie sich für ihre 12. Ausgabe ausgedacht hat. Misst man sie an dem neuen Kunststandard am Bosporus, wurden seine neun Arbeiten plötzlich zu subversiven Objekten. Mit dem Diktum „Die Skulptur gehört nicht zu unseren nationalen Werten“, hatte Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan zum Auftakt der Istanbuler Kunstwoche dieser gefährlichen Gattung eine Absage erteilt.
Die Szene zeigt türkische Kunst zwischen Druck und Selbstbehauptung. Und nicht zuletzt wegen dieser prekären Lage fanden in diesem Herbst wohl zwei Veranstaltungen zur gleichen Zeit statt, die sonst mehrmonatigen Sicherheitsabstand hielten: Die 1987 gegründete Biennale der Istanbuler Stiftung für Kunst und Kultur (IKSV) und die 2006 ins Leben gerufene Kunstmesse Contemporary Istanbul (CI) des Tourismus-Unternehmers Ali Güreli.
Zusammen sind wir stärker, dürften sich die einstigen Opponenten gedacht haben. Mit interessantem Effekt: Exemplarisch beleuchten die beiden Veranstaltungen zwei seltsam spiegelverkehrte Strategien, die Kunstfreiheit zu verteidigen.
Spätestens nach dem gescheiterten Militärputsch vor einem Jahr schien die Aufgabe des dänisch-norwegischen Kuratorenpaares Elmgreen und Dragset, die 15. Ausgabe der Biennale zu kuratieren, zur mission impossible zu werden. Einerseits sollten die Künstler die Tradition einer Biennale mit hohem politischem Konfliktpotential fortführen. Andererseits sollten sie deren Existenz nicht gefährden.
Das Subtile, Metaphorische vieler Arbeiten, mit der sich die Kuratoren aus diesem Dilemma winden, zeigt die Istanbuler Künstlerin Candeğer Furtun. Die neun Männerbein-Paare aus Keramik in einem gekachelten Baderaum auf einer Bank fragen nach individuellen Körperpraktiken. So breitbeinig tritt die Türkei aber auch politisch gegenüber ihren acht Nachbaarstaaten auf.
Der einzig direkte Hinweis auf die konkrete Politik kommt von der marokkanisch-französischen Künstlerin Latifa Echakhch. Mit ihren zerbröselnden Wandzeichnungen des Gezi-Aufstands im Istanbul Modern spielt sie auf das Verschwinden einer Hoffnung an.
Umgeht die nichtkommerzielle Biennale die direkte politische Konfrontation mit dem Erdoğan-Regime mit Verschlüsselung, wird die Kunst ausgerechnet auf der, leider immer noch zweitklassigen CI-Kunstmesse offensiv politisch.
Ob nun Istanbuls Alan-Galerie Kezban Arca Batıbekis Bild “No Promised Land” (2017) zeigt, auf denen die türkische Künstlerin klassische Landschaftsidyllen mit solchen von Krieg und Flüchtlingslagern kombiniert. Oder ob man die Fotos nimmt, mit denen die Berlin-Istanbuler Galerie Zilberman an die spektakuläre Aktion der türkischen Künstlerin Şükran Moral erinnerte, die vergangenes Jahr ein blutiges Tierherz an die Wand nagelte – Symbol für den existenziellen Schmerz ihres Landes.
Wer in diesen Tagen an den Bosporus kam, erlebte eine markante Diskrepanz zwischen Medienwahrnehmung und Realität. Gleicht, von Deutschland aus gesehen, die ganze Türkei längst einem Gefängnis, verblüffte eine Kuratorin im Gespräch mit dem Geständnis: „Wir erleben hier unsere glücklichste Zeit“. Andererseits gab es aber tatsächlich schon lange keine Attentate oder Anschläge mehr.
Illusionen über die Aussichten im Land macht sich dennoch niemand. Mochten auch Messedirektor Ali Güreli und seine graue Eminenz Hasan Bülent Kahraman, Vizerektor der Hadir Kas Universität, sich noch so an die vage Hoffnung klammern, dass Kunst in der Türkei trotz der „schwierigen Zeiten“ im Land auf lange Sicht die „Welt besser machen“ werde. Nach zwölf Kunstmessen marschiert die Türkei derzeit geradewegs in eine Diktatur.
Erst im Februar hatte Erdoğan in einer Rede angekündigt, dass man in der Kultur noch am wenigsten erreicht habe. Insofern war die irritierende Fröhlichkeit, mit der am Bosporus ein Programm abgespult wurde, dass der Berliner Art Week in nichts nachstand, weniger ein Signal zur Entwarnung. Kunst hat hier eher die Funktion, die Biennale-Direktorin Bige Örer auf der Eröffnung im Garten der alten französischen Botschaft mit den Worten beschrieb: „Einfach mal durchatmen“.
So politisch wie in den 90er Jahren wird die Kunst in der Türkei nicht mehr werden. Ausgerechnet der Kampfesmut eines kemalistischen Fossils wie dem 1957 geborene Bedri Baykam wird da plötzlich zu einer Hoffnung. Auf dem Stand seines Piramid Art Centers auf der CI-Messe bot die historische Figur der türkischen Kunstgeschichte für anderthalb Millionen Dollar eine ziemlich alte Arbeit an.
„Box of Democray“ heißt die Holzkabine, die er 1987, in den Jahren nach dem Militärputsch in der Türkei, im Gründungsjahr der Istanbul-Biennale, kreierte. Wer das einen Quadratmeter große Symbol für ein Stück Freiheit betritt, kann ein Telefon benutzen oder Graffiti an die Wand schmieren.
Zu Zeiten, in denen am Bosporus der „deep deep fascism“ anbricht, wie eine Kuratorin seufzte, ist das Erbstück aktueller denn je. Nicht zuletzt ist Baykams Arbeit eine wunderbare Skulptur.
Ingo Arend
Bild ganz oben: Ein Land und seine acht Nachbarn (Ausschnitt) | Candeğer Furtuns Arbeit „Untitled (1994-1996) auf der 15. Istanbul-Biennale. | Foto: Ingo Arend
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