Die kleine Kunstbiennale in Sinop am Schwarzen Meer zeugt vom Beharrungsvermögen der türkischen Zivilgesellschaft.
„It’s worth taking a vacation here. You can see everything clearly.” Auf den ersten Blick klingt es wie eine klassische Urlaubsbotschaft. Und doch spürt man den Unterton in dem Satz in blauen Buchstaben auf dem Kunstwerk an der rissigen Wand einer alten Eisfabrik.
Der Berliner Künstler Roland Stratmann hat Einwohner der kleinen Küstenstadt Sinop am Schwarzen Meer gebeten, ihm Postkarten ihrer Heimat zu senden und ihm etwas über ihr Leben und ihre Träume zu erzählen. 120 von ihnen hat er zu einer großen Bild-Installation zusammengefügt.
Die scheinbar banale Antwort, die seiner Arbeit den Titel gibt, mag dem Spiritus Loci geschuldet sein. Die pittoreske 100.000-Einwohner-Stadt auf einer Halbinsel am nördlichsten Rand der Türkei ist einer der beliebtesten Urlaubsorte der Türken. Nach dem schönen Wetter und der Lage am Meer sangen viele Postkartenschreiber dem Künstler das Loblied der einheimischen Spezialität „Manti“ – den legendär schweren türkischen Ravioli.
Die Antwort des Postkartenschreibers mag aber auch der politischen Situation geschuldet sein. Wer sagt in diesen Zeiten in der Türkei schon gern offen seine Meinung. Lieber spricht man durch die Blume: Aus der Distanz der schläfrigen Provinz kann man klarer sehen, was in diesem Land passiert.
Knapp 700 Kilometer liegen zwischen Istanbul, wo die Stimmung in der Kunstszene auf dem Tiefpunkt ist und der Stadt, die in Umfragen regelmäßig als „glücklichste Stadt der Türkei“ abschneidet. Die Schwarzmeerküste ist zwar Hochburg der AKP. Präsident Erdoğans Familie stammt aus dem benachbarten Rize. Doch Sinop, Geburtsort des antiken Philosophen Diogenes, wird als eine der letzten Städte noch von der oppositionellen CHP regiert.
Politische Gegensätze fallen in dem Provinzort nicht so ins Gewicht. Dass man sich aus der Schule kennt und abends an der Hafenpromenade gemeinsam Çay schlürft, ist wichtiger als die Parteipräferenz. Und dass in dem Loop von Charlie-Chaplin-Filmen auf der Terrasse des kleinen Hafen-Cafès Aykin alle Stunde „Der große Diktator“ über den riesigen Flachbildschirm flimmert, erregt hier noch keinen Anstoß. Wir sind schließlich in der Stadt, an deren Ortseingang eine Statue an den Mann in der Tonne erinnert, der einst Alexander den Großen bat, er möge ihm aus der Sonne gehen.
Die täglichen Tiraden ihres regierenden Autokraten kommen in diesem sonnigen Netzwerk der Freunde, Familien und Touristen, fernab der Politik, zeitverzögert, gleichsam mit Schalldämpfer an. Vielleicht ist es kein Zufall, dass zwei liberale türkische Küstenstädte eine Biennale haben: Çanakkale an den Dardanellen und Sinop am Schwarzen Meer. 2006 gründeten hier die zwei Istanbuler Kunstprofessoren Melih Görgün und Mahir Namür die Sinopale.
Wegen des gescheiterten Putschs im letzten Sommer spektakulär abgesagt, holt sie ihre Jubiläumsausgabe verspätet nach. Dass sie sich unter dem Titel „Transposition“ dem „Tausch, Wechsel, der Übertragung“ widmet, wie es das „curatorial statement“ etwas wolkig formuliert, bedeutet nicht, dass die Schau vor einem brisanten Kontext kneift.
Im Kalten Krieg war Sinop wegen seiner vorgeschobenen Lage ein US-Spionageposten in die verflossene Sowjetunion. Vor den Toren der Stadt wird gegen den Widerstand der Bevölkerung das zweite AKW des Landes gebaut. Trotzdem findet man auf dieser Schau keine Anti-Erdogan-Parolen oder politische Slogans.
Ab und zu wird es auch in Sinop spektakulär. 2006 hängte sich die Performance-Künstlerin Nezaket Ekici in dem Frauentrakt des alten Sinoper Gefängnisses an ihren eigenen Haaren auf. Durch den gruseligen, 1997 aufgegebenen Komplex, in dem von Sabahattin Ali bis Nazim Hikmet seit mehr als hundert Jahren Schriftsteller und Intellektuelle inhaftiert waren, streifen heute gut gelaunte Touristen in Shorts und Tanktop.
Zwar irritiert es, wenn die 6. Sinopale in dem Pulverfass Türkei „keine Notwendigkeit“ sieht, „politische Parolen in die Manege zu werfen“. So sieht es Görgüns Co-Kuratorin Nike Bätzner, Professorin an der Hallenser Kunsthochschule. Ihr Beharren auf der „eigenen Sprache“ der Kunst geht am Ende aber auf: Aus den sanften Bedeutungsverschiebungen, um die es ihr mit „Transpositions“ geht, lässt sich durchaus kritisches Kapital schlagen.
Das gilt für Ayşe Erkmens vier Meter hohen Schriftzug aus blauen Plexiglasbuchstaben in der Eisfabrik. Mit dem Standortkommentar „Bus Gibi – Wie Eis“ bringt sie auch die Lage im Land auf den Punkt. Denn das türkische Idiom bezeichnet eine gespannte Situation, in der alles wie gefroren erscheint.
Und die Drohnenaufnahmen vier türkischer Vulkane, mit denen der Istanbuler Fotograf Volkan Kızıltunç nach der Zukunft der Fotografie fragt, lassen sich auch als Symbol des bevorstehenden Ausbruchs unterdrückter Energien lesen.
Natürlich ist die kaum bekannte Sinopale nicht wirklich satisfaktionsfähig in der Liga der internationalen Biennalen. So wie Melih Görgün und seine zwei Mitstreiter hier mit wenig Geld, viel Schweiß und unter den Augen des argwöhnischen AKP-Provinzgouverneurs immerhin vierzig KünstlerInnen zu einem intelligenten Parcours formierten, wirkt der Schlachtruf „Schafft die Kuratoren ab!“ wie populistisches Geschrei.
Denn diese Biennale nimmt auch die abgenutzten Floskeln von der „Ortsspezifik“ und der „Zusammenarbeit mit der Bevölkerung“ ernst. Die Berliner Künstlerin Ulrike Mohr sammelte wochenlang mit Helfern Treibholz am Strand. Bei ihrem Versuch, ein Natur- in ein ästhetisches Medium zu überführen, half ihr ein Köhler aus Sinop. Wie ein Schwarm Möwen im Wind schwingt nun ein Mobile aus Holzkohle in der Eisfabrik.
Farbe und Zutaten für die Kekse, aus denen der Berliner Künstler Sebastian Körbs das islamische Kachelmuster „Girin“ zu einem essbaren Installationspuzzle zusammenfügte, tüftelte er mit einem örtlichen Bäcker aus. „Können wir Monster machen?“, bettelten Sinoper Kids, als der Hallenser Künstler Murat Haschu sie Wochen vor der Eröffnung zum Animationsworkshop einlud.
Das Stichwort „Affirming the periphery“ ist zwar ein hohler Euphemismus aus dem Treibhaus der Art Crowd. Aber ausgerechnet die kleine Sinopale könnte als Modellversuch für diesen Ansatz durchgehen: An Prozessen interessiert, in der Region verankert, auf Augenhöhe mit ihren Adressaten – ohne an ästhetischer Qualität einzubüßen. „Learning from“- womit sich die Documenta in Athen schwer tat – bei der Synodale gelingt es.
Die ist außerdem eine nicht zu unterschätzende, attraktive Basisgruppe auf Zeit. Zwischen Kuratoren, Künstlern und dem Heer der Helfer entsteht in den Wochen vor dem Aufbau eine einzigartige Atmosphäre chaotischen, kreativen Arbeitens. Irgendeiner der vielen jungen Freiwilligen, die die unkonventionelle Truppe anzieht wie Motten das Licht, treibt in der Verwandtschaft dann doch noch den fehlenden Bohrer auf.
Und wenn morgens Pedram Dan, der nach Sinop geflüchtete Rockmusiker aus dem Iran, im Hof einer kleinen Markthalle für die Crew Frühstückseier brät und Sinopale-Gründer Namür abends Spaghetti für alle kocht, entsteht für Momente so etwas wie eine Soziale Plastik à la Turka.
„Es gibt hier eine andere Art von Energie“, begeistert sich Co-Kurator Jonathan Engqvist aus Stockholm für das Besondere des Events. Die Prestige-Tanker in Venedig oder Sao Paulo sind in Routine erstarrt. In Sinop dagegen spürt man noch etwas von der unbedingten Leidenschaft, einer kunstfernen Öffentlichkeit andere als die alltäglichen Bilder näher zu bringen.
„Mich erinnert hier alles so an Istanbul vor zehn Jahren“, schwärmt Ulrike Mohr, als der Tross nach der Eröffnung auf der mitternächtlichen Beachparty barfuß in den sanften Fluten des Schwarzen Meeres steht. „Als ich da mein Stipendium hatte, kamen wir zusammen, die verrücktesten, verschiedensten Leute, tauschten unsere Ideen aus. Wie bewahren wir Sinop davor, so zu werden wie Istanbul?“
Die Gefahr, dass ein romantisches Kunstbiotop fernab der verkommenen Metropolen kommerziell umkippt, ist angesichts der Lage in der Türkei natürlich nicht so groß. Schließlich schnurrt der Kunsthype vom Bosporus gerade wie ein aufgelassener Luftballon zusammen.
Aber wenn die kleine Provinz-Biennale etwas beweist, dann zumindest die Beharrungskräfte der türkischen Zivilgesellschaft. Mag die türkische Diktatur auch jeden Tag ihre Schlingen enger ziehen. Die Szene macht einfach weiter, so lange es irgend geht. In der Türkei wird die Kunst gerade zur Durchschlageübung.
Was in Sinop kein Wunder ist. Hat die Stadt doch ihren Namen von der antiken Najade, die einst dem Drängen des Zeus widerstand. Sie entstand genau an der Stelle, wo die schöne Nymphe dem stalkenden Göttervater eine Abfuhr erteilte.
Text und Fotos: Ingo Arend|SZ vom 29.08.2017
Bild ganz oben: Vor dem Ausbruch unterdrückter Energien. Volkan Kızıltunçs Fotoserie „Altered Space“. Foto: Ingo Arend
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