Tension and Balance
„Na, das ist ja schon ein sehr spezieller Teil des linken Spektrums, der da hingeht.“ Julia schaut streng über ihre Goldrandbrille, als ich ihr von meinem Faible fürs Laidak erzähle. „Äh, findest du?“, frage ich irritiert. So radikal sehen sie da gar nicht aus. Eher wie cool verschlampte Fast-Hipster mit Reflexionshintergrund. In der „Schankwirtschaft“ am Boddinplatz kann man sich sehr schön mit Hardcore-Spirituosen betäuben: mal mit marxistischer Subjekttheorie, sonntags beim Bloody-Mary-Frühstück. Manchmal spielen sie im verräucherten Backroom auch bloß Mensch-ärgere-Dich-nicht.
Jedenfalls stellte sich wieder dieses Gefühl von urbaner Nische und Late-Night-Coolness ein, als ich mit Matthew – nach dem letzten Film im Rollberg-Kino – am verkommenen Jobcenter vorbei über das Kopfsteinpflaster zu der schummrigen Eckkneipe stolperte: Eine Stimmung wie in Edgar Wallace’ „Die toten Augen von London“. Hier sagen sich Stadtfuchs und Freak Gute Nacht. Auf dem Kinderspielplatz lassen ein paar pechschwarze Kapuzenpullover zischelnd die Smartphones blitzen. Nur diese Kleinstadt wie aus einem Monopoly-Alptraum neben der Kindl-Brauerei stört.
„Erzähl nur niemand von dem Laden. Sonst ist er bald ein Durchlauferhitzer für amerikanische Touristen“, schärfe ich Mat ein, als wir am Tresen ein Zwickelbier trinken und Nüsse knabbern. Die Bude mit dem Charme eines ramponierten WG-Wohnzimmers ist nur spärlich besucht. Bei Kerzenschein liest einer versunken ein Buch.
„Kommst du am Wochenende zum Symposium?“, fragt Grit. Auf dem Kassenbildschirm hinter ihr blinkt ein schwarzes A. „Mal sehen“, antworte ich unschlüssig, „Tension and Balance ist jetzt nicht so mein Thema.“ Unter dem vergilbten Lampenschirm neben der Etagere schwingt sanft die schwarz-rote Sammelbüchse der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger.
Ingo Arend
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