Zielstrebig treibt der türkische Präsident die kulturelle Gegenrevolution in seinem Land voran. Im System Erdogan manifestiert sich die Rache der Geschichte für die autoritäre Modernisierung unter Kemal Atatürk.
Speertragende Wächter, Krieger in schimmernden Kettenhemden, Soldaten mit Goldhelmen. Als Palästinenserpräsident Mahmud Abbas im Januar 2015 auf Staatsbesuch in der Türkei war, staunte er nicht schlecht. Zur Begrüssung hatte Präsident Recep Tayyip Erdogan sechzehn kostümierte Soldaten auf der grossen Freitreppe seines funkelnagelneuen Präsidentenpalasts antreten lassen.
Abbas trug die groteske Heerschau mit Fassung. Stoisch schüttelte er die Hand seines stolzen Gastgebers am Fuss des historischen Catwalks. Derart spektakulär hatte noch kein türkischer Präsident die sechzehn Sterne versinnbildlicht, die sein Emblem zieren – Symbole für die sechzehn Reiche in der Geschichte Anatoliens. Die Inszenierung zeigt: Der Mann, der es als muslimischer Emporkömmling aus dem Istanbuler Proletarierbezirk Kasimpasa an die Spitze der kemalistischen Republik in Ankara geschafft hat, ist ganz gewiss von Machthunger und Grossmannssucht getrieben.
Doch trotz des blutigen Kriegs gegen die KurdInnen, der Verfolgung von Journalisten, Wissenschaftlerinnen und anderen Intellektuellen, der brachialen Schleifung der Pressefreiheit: Darauf reduzieren darf man den umstrittenen türkischen Präsidenten nicht. Denn hinter Erdogans Obsession mit Symbolen lassen sich die Umrisse einer kulturellen Konterrevolution erkennen, die er zielstrebig verfolgt.
Die Kultur wird ausgeweidet
Schon der Plan, im Gezipark an Istanbuls Taksimplatz eine Shoppingmall im Stil der Topcu-Kaserne von 1780 zu errichten, sollte einen Ort für das symbolische Miteinander von Männern, Frauen und Kindern in der Öffentlichkeit mit einem Symbol aus der Zeit vor der Republik ersetzen – die Topcu-Kaserne war 1909 das Hauptquartier eines Putschs sultantreuer Truppen gegen die republikanischen Jungtürken. Der Aufstand, den der Plan entfachte, hat es vorerst verhindert, dass das Atatürk-Kulturzentrum direkt gegenüber gleich mit abgerissen wurde. Unauffällig hat man es verfallen lassen. Inzwischen steht nur noch das ausgeweidete Betonskelett des 1969 errichteten Baus – mit seinen offenen Foyers, mondänen Sofas und Glaslüstern ein symbolischer Anschluss der Türkei an die westliche Kulturmoderne.
Auch der Ort für Erdogans neuen Präsidentenpalast in Ankara war mit Bedacht gewählt. Denn der Staatschef besetzte demonstrativ einen mythischen Ort: eine Grünfläche, die Mustafa Kemal Atatürk 1925 zum Staatsforst bestimmt hatte. Wie «seldschukisch» die Architektur des Palasts ist, darüber streiten die KunsthistorikerInnen. Das Ensemble mit den auskragenden Dächern erinnert auch weniger an Nicolae Ceausescus Palast in Bukarest als an eine Zeltstadt – Tribut an die nomadische Kultur der zentralasiatischen Turkvölker, die einst Anatolien besiedelten. Dass Erdogan kurz nach der Einweihung erklärt hatte, der in «külliye» umgetaufte Palast – und nicht etwa das Parlament – verkörpere in Zukunft Nation und Staat, machte die symbolische Wende noch deutlicher. Denn «külliye» bezeichnet einen Komplex aus Schulen, Küchen und Gästehäusern um eine Moschee.
Religion und eine konsultativ umschmeichelte Zentralautorität statt Laizismus und Streitkultur: Spätestens 2023, zum Hundertjahrjubiläum der Staatsgründung, soll das Land zur «Neuen Türkei» gewendet sein – mit einem allmächtigen Präsidenten an der Spitze. Der Alkoholbann, der Fall des Schleierverbots, die Aufhebung der Koedukation waren kleine, aber sorgsam geplante Schritte auf dem Weg zum grossen Ziel, Atatürks Kulturrevolution aufzuheben.
Den Keim für den aktuellen Retrovirus hat die damalige Kulturrevolution selbst gelegt, so autoritär, wie sie durchgesetzt wurde. Atatürks «Hutreform», das Verbot religiöser Bruderschaften und der arabischen Schrift sowie die Verpönung der «dekadenten» osmanischen Geschichte schnitten das Land über Nacht gewaltsam von seiner Geschichte und Kultur ab. Jetzt kehrt das jahrzehntelang Verdrängte und Verbotene zurück. Recep Tayyip Erdogan ist nur der brutalste Ausdruck dieses Drangs, das Land an seine kulturellen Quellen zurückzubinden, Rache für 1923 zu nehmen.
Am Phantomschmerz über den Verlust dieser Quellen leiden nicht nur fromme MuslimInnen. Schon Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk beschreibt in seinem Buch «Istanbul» (2010), wie ihn beim Anblick der architektonischen Relikte des Osmanischen Reichs das Gefühl unerklärlicher Schwermut überkommt, weil er deren Inschriften nicht entziffern kann. Dieses Sentiment griff Erdogan mit seinem Plan auf, an den Schulen wieder das osmanische Türkisch lehren zu lassen.
Wie vor neunzig Jahren wird dabei der Körper der Frau zur symbolischen Projektionsfläche und zum Kampffeld. Das ikonische Bild, das Staatsgründer Atatürk 1929 demonstrativ beim öffentlichen Tanz mit seiner Stieftochter Nebile zeigt, hängt noch heute in vielen Bekleidungsgeschäften in der Türkei. Dem setzt Erdogan seine verschleierte Frau Emine entgegen. Der vierfache Vater beschwört die «heilige Pflicht» der türkischen Frauen, der Nation mindestens drei Kinder zu gebären. Der Staat will die Geburt jedes Kindes mit einer Goldmünze belohnen.
Theater werden abgestraft
Ins Visier der Umgestaltungspläne gerät nun auch die türkische Kulturszene. Nicht nur, dass nach den Gezi-Protesten fünfzehn Theatern, die mit der Rebellion sympathisiert hatten, die öffentliche Förderung entzogen worden war. Erdogan will jetzt auch die 2013 angekündigte Privatisierung der bislang staatlich getragenen Theater durchsetzen – der letzten Hochburg der kemalistischen (Geistes-)Elite. In Zukunft sollen diese Häuser nur noch einzelne Projekte bei einer neu einzurichtenden «Kunstinstitution der Türkei» beantragen können, deren Mitglieder vom Ministerrat berufen werden sollen. Damit soll der «konservativen Kunst» der Weg bereitet werden, die die muslimischen TraditionalistInnen seit Jahr und Tag fordern.
Traditionell versteht der türkische Staat unter Kulturpolitik nicht viel mehr als den Tourismus und die Pflege der vielen historischen Monumente und Ausgrabungen im geschichtsträchtigen Kleinasien. Oder er finanziert Prestigeprojekte wie dasjenige der «Kulturhauptstadt Europas», als die Istanbul im Jahr 2010 fungierte.
Der beispiellose Boom der unabhängigen, zeitgenössischen Kunst dagegen, den die westliche Öffentlichkeit seit den neunziger Jahren am Bosporus bejubelt, ist fast vollständig auf das Mäzenatentum der grossen Industriellenfamilien Koc, Sabanci und Eczacibasi zurückzuführen, mit ihren Privatmuseen wie dem Istanbul Modern und Kulturstiftungen wie der Istanbuler Stiftung Kunst und Kultur. Die 1973 gegründete Institution allein organisiert eine Kunst- und eine Theaterbiennale, ein Jazz- und ein Filmfest sowie eine Designbiennale. In ihrem Motiv, die säkulare Öffentlichkeit im Land zu erhalten, trifft sich diese geldgebende, aufgeklärte Bourgeoisie mit den durchweg gesellschafts- und kapitalismuskritischeren Intentionen der vielen KünstlerInnen, die derzeit grösseren Widerhall in der internationalen Kunstszene finden als ihre KollegInnen in Griechenland oder selbst Frankreich.
Der Präsident lehrt Gehorsam
Bislang galt die Kunstszene der Regierung als vernachlässigbare Grösse. Doch der Geist kritischer Reflexion, der sich hier entwickelt hat, ist dem Regime zunehmend ein Dorn im Auge. Das führte Anfang des Jahres dazu, dass eines der grössten Kunsthäuser, das 2011 von der grossen Garanti-Bank gegründete interdisziplinäre Forschungs- und Ausstellungszentrum Salt, seine international beachtete Vorzeigelocation im Stadtteil Beyoglu für zunächst ein Jahr schliessen musste.
Februar sagte die nichtkommerzielle Kunstabteilung der Akbank, eines der grössten Unternehmen der Türkei, eine Kunstausstellung zum Thema «Post Peace» in ihrem gut frequentierten Ausstellungsraum auf Istanbuls Flaniermeile Istiklal Caddesi ab. Waren es im Fall von Salt angeblich «technische Gründe», verwies die Akbank auf die «heikle Situation in der Türkei». KritikerInnen sehen beide Vorfälle als Indiz für das immer repressivere Klima im Land.
Mit derlei Ansagen, Rochaden und Druck hinter den Kulissen kopiert der rüde Präsident das fest ins kollektive Bewusstsein der TürkInnen eingebrannte Bild des strengen Lehrers, der den Menschen vor einer Schiefertafel das lateinische Alphabet einbläut. Ob er die Gezi-DemonstrantInnen mit vorgehaltener Tränengaspistole Gehorsam lehrt, ob er den KurdInnen das Recht auf das eigene Volkstum abspricht oder ob er beim Sonntagsspaziergang in Istanbul einen Mann, der auf dem Balkon eines Cafés eine Zigarette raucht, öffentlich zur Rede stellt.
Dass er in seinem Tausendzimmerpalast weiter unter einem riesigen Porträtbild Atatürks arbeitet, ist keine geschickte Tarnung, sondern das folgerichtige Paradox der erdoganschen Erziehungsdiktatur. Denn der Staatschef wiederholt Atatürks Kardinalfehler. Als er Ende vergangenen Jahres in Brüssel eine aufwendige Schau über 12 000 Jahre Kulturgeschichte in Kleinasien eröffnete, blieben die 85 Jahre türkische Republik ausgeblendet – selektive Historie, diesmal andersherum.
Mehr als sechs Pfeile
Das System Erdogan ist die Rache der Geschichte für eine autoritäre Modernisierung. Sie markiert allerdings nicht den Aufbruch zu neo-ottomanischen Zeiten, sondern die blutige Implosion einer der grossen Revolutionen aus dem von Eric Hobsbawm so genannten «Jahrhundert der Extreme». Insofern beginnt die eigentliche Aufgabe nach Erdogan. Demokratie und modernes Leben werden weder durch einen EU-Beschluss noch durch den Sturz des Autokraten in die Türkei zurückkehren. Sondern nur mittels der «Modernisierung von unten», die der chinesische Kurator Hou Hanru seiner Istanbul-Biennale von 2007 als Motto gab – und die ihm damals einen Shitstorm der kemalistischen AkademikerInnen eintrug.
Und diese Modernisierung muss den TürkInnen attraktivere Symbole anbieten, als immer nur mit den «sechs Pfeilen» des mythischen Staatsgründers zu wedeln, die für Laizismus, Säkularismus, Etatismus, Republikanismus, Populismus und Nationalismus stehen. Wenigstens trägt dieser ausgeblichene Kostümkrieger, der wahlweise im Frack oder mit Fellmütze noch immer in der rechten oberen Ecke jeder türkischen Behörde, Bar oder Dönerbude hängt, keine Waffen wie Erdogans historische Star-Wars-Krieger.
Ingo Arend
Die Wochenzeitung Nr. 12/2016 vom 24.03.2016
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