Knotenpunkt der Diskurse
Im Herbst feierte die Zeitschrift „Texte zur Kunst“ 25-jähriges Jubiläum. Sie hat die Kunstgeschichte auf neue theoretische Füße gestellt.
„Vollkommen wirkungslos“. Auf einem Symposium 2010 im Berliner Theater Hebbel am Ufer zog der amerikanische Kunsttheoretiker Benjamin H. D. Buchloh ernüchtert Bilanz. Nichts, was sich der Kunstmarkt nicht einzuverleiben vermöge, lamentierte ein enttäuschter Geistesheroe auf der Jubiläumsveranstaltung zu 20 Jahre Texte zur Kunst. Er sei nichts als eine ohnmächtige Randfigur des Betriebs. Die amerikanische Kritikerin und Konzeptkünstlerin Andrea Fraser, ebenfalls zu Gast, überlegte sich gar, in die Psychotherapie zu wechseln.
Buchlohs Urteil wiegt schwer. Wenn es noch einen Kunstkritiker gibt, dem man so etwas wie kritische Wirkungsmacht zugestehen wollte, dann dem 1941 geborenen Harvard-Professor und Gerhard-Richter-Spezialisten. Sein Verdikt hätten sich die Gründer von Texte zur Kunst 1990 sicher nicht träumen lassen.
Trug der Titel der Zeitschrift, die der Kunsthistoriker Stefan Germer, Jahrgang 1958, und die Politologin Isabelle Graw, Jahrgang 1962, Ende 1990 in Köln aus der Taufe hoben, doch demonstrativ das Bekenntnis zu Kritik und Theorie vor sich her.
Texte zur Kunst klang wie eine Adaption von André Bazins Cahiers du Cinéma. Vorbild war jedoch die amerikanische Zeitschrift October, für die Germer während seines Studiums in Chicago geschrieben hatte. Die wiederum war nach dem Eisenstein-Film October – Ten Days, that shook the world von 1928 benannt, der in der UdSSR wegen „Formalismus“ verpönt war.
Mit dem Blatt hatte die amerikanische Kunstkritikerin Rosalind Krauss 1976 ein progressives Organ für die Kritik zeitgenössischer Kunst und populärer Kultur geschaffen. Zu dessen Autoren zählte, neben Buchloh, auch der amerikanische Kritikerpapst Hal Foster. Die Entstehungsgeschichte von Texte zur Kunst (TzK) ist also auch die Geschichte eines transatlantischen braindrains undogmatischer Prägung.
Mit diesem Vorbild wurde TzK zum Pionier der „Kunstwissenschaft“, in die sich die Kunstgeschichte während der 90er Jahre verwandelte. Mit Social History, Gender Studies, französischem Poststrukturalismus und Psychoanalyse statt betulicher Stilkritik wollten ihre Macher das Fach auf neue theoretische Füße stellen. Auch ihre Macher beflügelte die Idee von der Ästhetik als neuer Leitwissenschaft der Postmoderne. Der amerikanische Kunsttheoretiker W.J.T Mitchell sah sie gar von einer marginalen Position ins intellektuelle Zentrum aufsteigen.
TzK verstand sich dabei aber immer als „links“. So bekräftigte es Graw, heute zur respektierten, aber immer streitlustigen Kunsttheorie-Professorin an der Frankfurter Städel-Akademie aufgestiegen, noch 2010, zum 20-jährigen Jubiläum. Dem Duo Germer und Graw ging es aber immer um zeitgemäße Gesellschaftskritik jenseits der alten Ideologiekritik oder eines überholten Agitprop.
In einem heute noch lesenswerten Aufsatz über die „Verlorene Ästhetik der neuen Linken“ befand ihr Mitstreiter, der junge Kunsthistoriker Tom Holert 1992, „der versteinerte Diskurs der moralischen Imperative und Authentizitätspostulate hat die Linke und ihr Kulturverständnis gänzlich inakzeptabel werden lassen“. Beharrte aber auf der „Ästhetik als Feind allen Herrschaftsdenkens und jeder instrumentellen Vernunft“.
TzK ist also ein markantes Beispiel für den Versuch eines Teils der linken Intelligenz, sich nach dem Epochenbruch 1989 neu zu orientieren. Unter dem Motto: „Kultur der Politik, Politik der Kultur“ wollte auch die, ebenfalls 1990 gegründete, Wochenzeitung Freitag Politik und Ästhetik zu einer neuen, gesellschaftskritischen Masse verschmelzen.
Irgendeiner sterilen Ableitungsrhetorik zog TzK die „Vorführung extremer Sachverhalte“ vor. Programmatisch hieß der Titel der ersten Ausgabe im September 1990 „Avantgarde und Massenkultur“. Die Filme David Cronenbergs wurden genauso seziert wie die französische Salonmalerei Ende des 19. Jahrhunderts oder die legendäre Vogue-Chefin und Mode-Ikone Anna Wintour.
Immer ging es um Ästhetik und Politik. „Ausstellungsmodelle zwischen Display und Animation“ standen ebenso zur Debatte wie die deutsche Leitkultur. Ein Musterbeispiel des kreativen Theorie-Crossovers war der Versuch, mit dem „Apparate“-Begriff Walter Benjamins oder Louis Althussers die „Materialität der kommunikativen Prozesse“ wieder sichtbar zu machen, die der diffuse Begriff „Medium“ verwischte.
So etwas wie „Macht“ ortete die Zeitschrift nicht nur in der Politik, sondern auch im Kunstbetrieb selbst. „Feld“, „Kontext“ und „Institutionenkritik“ waren die Stichworte der Stunde. Kein Wunder, dass der französische Soziologe Pierre Bourdieu „Haustheoretiker“ (Graw) des Blattes war und nicht der Systemanalytiker Niklas Luhmann. Die Texte-Gründer sahen sich als „Entmystifizierer“ und „Transparenzmacher von Produktionsbedingungen“ von Kunst.
1992 hatten „Germer&Graw“, so der Titel einer gemeinsamen Kolumne, den damaligen FAZ-Kritikerpapst Eduard Beaucamp ins Kreuzverhör genommen, weil er dem Maler Jörg Immendorff mangelndes „Handwerk“ vorgeworfen hatte. („Ich bin kein Konservativer. Wir gehören zur 68er-Generation“ verteidigte sich der Kritiker während des Gesprächs.Der französischen Kuratorin Catherine David warfen sie vor, ihre Kritik des konservativen Kunstbetriebs nur vermöge der ihr verliehenen Macht als Kuratorin der Documenta 1997 in Szene setzen zu können.
Mit anderen Kunstmagazinen teilte TzK das Problem, etwas zu kritisieren, in das es selbst involviert war. Die Zeitschrift finanziert sich bis heute auch über Editionen befreundeter Künstlerinnen. Kritiker sehen darin die logische Folge ihrer ambivalenten Haltung zum Markt. Verwünschungen der „totalisierenden Kulturindustrie“, wie sie TzK-Intimus Benjamin Buchloh in der Zeitschrift wiederholt ausstieß, hatte Stefan Germer, 1998 mit gerade 40 Jahren an Leukämie verstorbene Hoffnung seiner Zunft, in einem Interview einmal kühl entgegen gehalten: „Statt Feindbilder zu pflegen, sollte man neu theoretisch untersuchen, was passiert wirklich mit Kunst, wenn sie sich auf den Markt begibt? Da sind die klassischen marxistischen, neomarxistischen und sozialgeschichtlichen Entwürfe überholt.“
Diese Haltung hatte TzK aber nie von geharnischter Grundsatzkritik abgehalten. 1992 attackierte Rosalind Krauss in einem Essay „Die kulturelle Logik des spätkapitalistischen Museums“. Noch heute wirbt TzK mit Germers Fundamentalkritik der Weltkunstschau als „anachronistisches Ritual“ von 1992.
Mag sein, dass der sperrige Furor der frühen Jahre sich verlor, die Sprache bleierner, akademischer wurde, als die Zeitschrift dazu überging, Schwerpunktthemen wie „Bohéme“, „The Curators“ oder „Neokonservatismus“ zu ventilieren. Zudem hatte TzK stetig mit dem nicht ganz unbegründeten Verdacht zu kämpfen, Organ der Selbstverständigung einer tendenziell selbstreferenziellen Szene zu sein. Mit einer Auflage von zuletzt 5000 Exemplaren entfaltet man auch schwerlich kulturelle Hegemonie. Und 25 Jahre und 100 Ausgaben später fühlt sich TzK-Gründerin Graw, wie sie kürzlich im Netz seufzte, „wie eine Veteranin“.
Ihre Zeitung sieht überhaupt nicht so aus. Sie ist ein kleiner, aber einzigartiger Knotenpunkt der Diskurse. Von Beginn an schrieben hier heute tonangebende Kunsthistorikerinnen wie Sabeth Buchmann oder Clèmentine Deliss, Musiker wie Jan Distelmeyer und Dirk von Lotzow oder Pop- und Theorievernarrte wie Diedrich Diederichsen und Mark Terkessidis.
Ende November feiert die Zeitung in Berlin ihr 25-jähriges Jubiläum mit einem Symposion zum „Kanon“. Die Idee dahinter, die Zeitschrift habe „ihren eigenen Kanon geschrieben“, klingt weniger anmaßend, wenn man das jüngste Buch der FAZ-Kunstredakteurin Julia Voß liest. So wie die Journalistin, Jahrgang 1974, in „Hinter weißen Wänden“ Kunstgeschichte als „Sozialgeschichte der Kunst“ definiert, klingt das wie ein Echo des frühen TzK-Rufs nach „Social History“. Weniger Erfolg dürfte das Blatt bei dem Versuch gehabt haben, die „verlorene Ästhetik der neuen Linken“ zu dynamisieren.
Deren moralische Postulate feiern gerade ein furioses Revival in den Aktionen des „Zentrums für politische Schönheit“. Den Aktivisten dieser brachialen Symbolpolitik dürften Isabelle Graws Differenzierungsbemühungen im jüngsten TzK-Heft zu „Photography“ lächerlich skrupulös vorkommen. Das „Subjekt, das sich im Selfie ständig neu erfindet und verändert“ sei „durchaus souverän, weil es sich sein Leben nicht völlig von der neuen Ökonomie aus der Hand nehmen lassen will“, schreibt die Texte-Herausgeberin dort. Vollkommen wirkungslos ist dieser Ansatz deshalb nicht.
Ingo Arend
Eine kürzere Version des Artikels erschien in: der freitag vom 5.11.2015
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