Euphorie und Verzweiflung. „Anatolia – Home of Eternity“ – das Kunstfestival Europalia beschwört in Brüssel die Türkei als „Wiege der Zivilisationen“, verfehlt aber die Gegenwart.
Bärtige Männer in Ritterrüstungen, Kettenhemden und goldenen Helmen. Als Mahmud Abbas Anfang des Jahres den türkischen Präsidenten Erdogan in seinem Palast in Ankara besuchte, staunte er nicht schlecht. Zur Begrüßung säumten 16 Ritter in verwegenen Kostümen die Palasttreppe, die die 16 historischen Reiche der Türken symbolisieren sollten.
So geschichtsbewusst gab sich der Staatschef nicht immer. Als 2004 beim Bau der Istanbuler U-Bahn Überreste des ältesten Hafens der Stadt gefunden worden waren, witterte Erdogan Sabotage seiner exzessiven Baupolitik und schnaubte: „Schafft die Scherben ins Museum“.
Dass genau dieser Historienschutt nun als Kulturbotschafter für das explosive Reich des grimmigen Präsidenten in Ankara werben darf, dass ihre Ausstellung von Erdogan selbst eröffnet wurde, ist ein ironischer Treppenwitz der Geschichte, für den allein man dem belgischen Kunstfestival Europalia schon dankbar sein darf.
Eines der 37 gesunkenen Schiffe, die damals im antiken Hafen des Theodosius gefunden wurden, das älteste von ihnen ist über 1500 Jahre alt, ist nämlich im MAS, dem Museum aan de Stroom in Antwerpen zu sehen. Die Schau „Istanbul – Antwerpen. Port City Talks“, ist Teil des unbekannten, aber aufwändigen Festes.
1969 gegründet, hat es 24 Ausgaben mit Länderschwerpunkten von China bis Brasilien organisiert. Dass sich Europalia, eine Verballhornung aus Europa und Ops, dem Namen der römischen Göttin für Fruchtbarkeit und Überfluss, auf die Kunstgeschichte konzentriert, kann kein Grund dafür gewesen sein, dass zwischen der „ewigen“ Türkei, die in diesem Jahr im Brüsseler Kunstpalast Bozar präsentiert wird und der realen eine doch recht große Lücke klafft. In der europäischen Hauptstadt wird die Türkei als „Wiege der Zivilisationen“, Anatolien als „Heimat der Ewigkeit“ besungen. Seit über 90 Jahren ist das Land aber auch die Wiege eines ewigen Bürgerkriegs.
Die Schau erinnert zwar daran, dass die Region mit 12000 Jahren beeindruckend vielfältiger Kulturgeschichte zivilisationsgeschichtlich schon mal weiter war. Die Statue einer selbstbewussten Mutter-Göttin mit breiten Hüften und großen Brüsten aus dem sechsten Jahrtausend v. u. Z. lässt die Ahnung keimen, dass die Macho-Kultur diese Menschheitswiege nicht immer so dominierte wie heute.
Und der Fries von dem Hadrianstempel in Ephesos aus dem Jahr 383 n.u.Z., in dem der christliche, oströmische Kaiser Theodosius in einem Reigen paganischer Gottheiten steht, belegt eine friedliche Koexistenz der Religionen und Ideologien schon in grauer Vorzeit, wie sie heute – inzwischen selbst am Bosporus – nicht mehr vorstellbar erscheint.
Ihre Botschaft, zusammengestellt aus 200 Leihgaben von 30 türkischen Museen: Die Türkei, zumindest aber der historische Grund, dem sie entwuchs, gibt andere als die imageprägenden TV-Bilder her: Die Niedermetzelung der Gewerkschafter auf dem Taksim- Platz 1977, die Tränengasjagd auf die Gezi-Demonstranten 2013, die zerfetzten Körper nach dem Anschlag von Ankara, die Bombardierung der kurdischen Rebellen im Südosten. Die Schau verfehlt aber die Gegenwart.
Zwar gibt es, über ganz Belgien verteilt, Ausstellungen wichtiger Gegenwartskünstler wie Gülsün Karamustafa oder Hüseyin Alptekin, zwar treten säkulare Stars wie Sezen Aksu oder Mehmet Aslan alias DJ Set auf. Die repräsentative Flaggschiff-Ausstellung „Anatolia“ endet jedoch bei dem dunkelroten Kaftan, den Sultan Osman II. bei seiner pompösen Parade zu den Freitagsgebeten in der Hagia Sophia trug.
Atatürk entsorgte die osmanische Kunstgeschichte aus dem kollektiven Geschichtsbewusstsein der Türkei, Erdogan will die republikanische Kunstgeschichte vergessen machen. Doch zählt diejenige seit 1923 etwa nicht zum „cultural heritage“ der Türkei, das hier so verschwenderisch ausgebreitet wird?
Vor dem Hintergrund des Kulturkampfes in der Türkei muss die Entscheidung des Europalia-Teams, das repräsentative Oeuvre mit der Republikgründung enden zu lassen, wie eine Parteinahme für die AKP-Vorstellungen vom Wert und Unwert der Zivilisationen. Unbewusst wiederholt die teure Ausstellung damit einen fatalen türkischen Hang zur Geschichtsklitterung.
Gäbe es nicht die Fotografien von Ali Taptik und Ahmet Polat, dem Besucher bliebe die Türkei von heute ziemlich fremd. Die beiden Künstler, Jahrgang 1983 und 1978, sind auf ihre Weise Wiedergänger Ara Gülers, so wie sie das Abgründige des türkischen Alltags in den Blick nehmen. Der sattsam bekannte Pionier der türkischen Fotografie mit seinen markanten, expressionistischen Schwarzweiß-Fotografien fehlt natürlich auch in Brüssel nicht.
Polats Aufnahme des „Rauchenden Mädchens“ in Istanbul von 2014 sagt aber etwas aus über den labilen Gemütszustand einer zeitgenössischen Nation, die sich ihrer Geschichte nicht mehr sicher ist. Die junge Frau schwankt zwischen Euphorie und Verzweiflung.
Ingo Arend
FESTIVAL
Europalia Turkey
noch bis zum 31.01.2016
Anatolia. Home of Eternity,
Imagine Istanbul, beide Bozar Brüssel,
Katalog, je 45 Euro.
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