Mit Leo Trotzki durch den Salzkanal
Auf der 14. Istanbul-Biennale sorgt Ex-Documenta-Chefin Carolyn Christov-Bakargiev für esoterische und magische Momente.
Bloodwater. Seit Monaten machte das Wort am Bosporus die Runde. Im Südosten zahlt die Türkei für den aufgekündigten Waffenstillstand mit den Kurden einen verheerenden Blut- und Bombenzoll. Ein unversöhnlicher Präsident beschwört am Grab toter Soldaten die Märtyrer der Nation. Istanbul ist zum Nadelöhr der weltweiten Flüchtlingsströme geworden. Entsetzt schaut das Land auf das Bild eines toten Flüchtlingskinds am Strand. Metaphorisch hat sich für türkische Intellektuelle der Bosporus längst blutrot gefärbt. Da wirkte das Thema „Saltwater – A Theory of Thought Forms“, das Carolyn Christov-Bakargiev, die Kuratorin der 14. Istanbuler Biennale über ihre Schau geschrieben hatte, plötzlich seltsam deplatziert: eine Mischung aus intellektuellem Luxus und platter Evidenz.
Schwarzes Meer, Bosporus, Marmarameer und Mittelmeer. Es lag nahe, Wasser, das Lebenselement der 12-Millionen-Metropole, einmal zum Thema der 1987 gegründeten Biennale zu machen. Bislang ist noch niemand auf diese naheliegende Idee gekommen. Dabei wird diese Brücke zwischen Europa und Asien genau dadurch definiert. Trotzdem klang es unfreiwillig sarkastisch, als Bakargiev im Vorfeld der Schau einer tief verwundeten Nation Gesundheitstipps gab. „Salzwasser“ schrieb sie in ihrem kuratorischen Statement, „heilt Atmungsprobleme und viele andere Krankheiten. Es beruhigt auch die Nerven“.
Dennoch ist die 14. Ausgabe einer der interessantesten Biennalen der Welt keine Übung in Esoterik und Hobby-Ozeanologie geworden. Was manche Beobachter befürchtet hatten; so wie Bakargiev seit Monaten ausgerechnet von der britischen Theosophin Annie Besant geschwärmt hatte. Das 1901 veröffentlichte Buch „Thought forms“ der Feministin und Freimaurerin, die zugleich aber auch Hinduismus und Ariertum erneuern wollte, erhob sie zu einem philosophischen Blueprint ihrer Schau. Wer Bakargievs zentrale Ausstellung im Istanbul-Modern-Museum betritt, steht nämlich gleich zu Beginn vor den geborstenen Säulen des libanesischen Künstlers Marwan Rechmaoui- Symbole für die Zerstörungen des Krieges und die prekäre Balance der Überlebenden.
Demokratischer Faschismus
Gleich danach folgt das Video „Imagination – III“. Darin hat die Künstlergruppe Artikişler Kolektifi Arbeiteraufstände in Ankara 2010 dokumentiert – drei Jahre vor den Kämpfen um den Gezi-Park in Istanbul. Im 1911 eröffneten Art-Nouveau-Hotel „Splendid Palace“ auf der idyllischen Ferieninsel Büyükada im Marmarameer lässt der südafrikanische Künstler William Kentridge in einer Video-Collage Leo Trotzki, von 1929-1933 im Exil in der Türkei, den „demokratischen Faschismus“ der dreißiger Jahre beschwören, den manche heute in der Türkei heraufdämmern sehen.
Wenige Meter weiter empfiehlt der brasilianische Künstler Cildo Mereiles im Ölbild „Project Hole to throw dishonest Politicians“ die ultimative Lösung der Probleme der Postdemokratie. Vor dem Präsidentenpalast in Brasilia sieht man ein kleines Loch, durch das man die unfähigen Politiker direkt in das magmatisch glühende Erdinnere entsorgen kann. Und die in schwarz, weiß und rot explodierenden Ölmalereien Vernon Ah Kees sind ein besonders gelungenes und sehenswertes Beispiel interkultureller Verständigung in Zeiten der Krise. Der australische Künstler hat das Gefühl von Hass, Trauer und Gewalt in Kunst zu fassen versucht, das er bei seinen Reisen durch den von Krieg und Gewalt besonders getroffenen Südosten der Türkei zu spüren bekam.
Es zeichnet die Istanbul-Biennale also aus, dass sie sich in einem Moment äußerster politischer Bedrängnis nicht zu plakativer Politkunst und billigen Gesten hinreißen ließ. Wie schnell man dabei von den Ereignissen überholt werden kann, hatte die 13. Istanbul-Biennale vor zwei Jahren demonstriert, als ihr Konzept des öffentlichen Raums vor dem Kampf um den Gezi-Park über Nacht zu einer Proseminarübung ausblich. Die politische Kunst, die Bakargiev in Istanbul präsentierte, überzeugt dagegen durch ihre Tiefenwirkung und ihr Formbewusstsein.
Die Skulpturen der iranisch-amerikanischen Künstlerin Sonia Balassanian sind eines der vielen Beispiele dafür, wie Bakargiev im Jahr der 100. Wiederkehr des Völkermords an den Armeniern dieses Tabuthema in der Türkei aufnimmt. Aus dem charakteristischen Tufa-Stein aus der Region der verlassenen armenischen Hauptstadt Ani hat sie Köpfe geformt, die an die deportierten armenischen Intellektuellen erinnern, die im April 1915 auf Geheiß der jungtürkischen Regierung deportiert und später im Südosten des Landes ermordet wurden.
Zierelemente mit Knochen
Ein anderes Beispiel gibt der amerikanische Künstler Michael Rakowitz. Auf beklemmende Weise ruft der Chicagoer in seiner Arbeit „The flesh is yours, the bones are ours“ dieses im Lande immer noch umstrittene Tabuthema auf. In der griechischen Schule in Galata hat er Nachbildungen der Stuckaturen auf den Boden gelegt, die früher die Spezialität armenischer Handwerker war. Wer genau hinsieht, merkt, dass die geschwungenen Zierelemente auf den Deko-Stücken aus Knochen geformt sind.
Rakowitz war schon bei Bakargiev’s 13. Documenta in Kassel dabei. Geschickt schirmt sich diese Kuratorin mit einem Cordon Sanitaire guter Künstler gegen die Kritik ihrer unkonventionellen Thesen ab. In Istanbul sind sie alle wieder dabei: Pierre Huyghe, Anna Boghiguian, Theaster Gates. Mit diesem Wanderzirkus von outstandig talents demonstriert sie aber auch eine Art kuratorische Nachhaltigkeit gegen das neoliberale Kuratoren-Prinzip des Ex-und-Hopp: Jede Biennale wirft Szene und Markt ein paar schnell umjubelte, schnell wieder vergessene Unbekannte und Trends zum Fraß vor. Bakargiev arbeitet lieber mit longtime companions.
Und die enttäuschen sie nicht. Wieder einmal ist es alles andere als Standardware, was etwa der belgisch-mexikanische Künstler Francis Alÿs in Istanbul ablieferte. Sondern von einer stillen, poetischen Kraft, wie in seinem neuen Schwarzweiß-Film „The Silence of Ani“ Kinder aus Ostanatolien in den Grasfeldern der verlassenen, historischen armenischen Hauptstadt Vogelmelodien auf flötenähnlichen Instrumenten spielen.
Hinter diesen beeindruckenden Inkunabeln dekliniert Bakargiev, wie schon 2012 in Kassel, ihre posthumanen Obsessionen durch: Wissenschaft und Natur als der Kunst gleichberechtigte ästhetische Formen. Als Medium der „Methode Bakargiev“ fungiert dabei die Wunderkammer. In die Rotunde im Kasseler Fridericianum stellte sie vor drei Jahren Profanes neben Hochkulturelles.
Gallé und Cajal
In Istanbul stellt sie Gallé-Vasen mit ihren vegetabilen Ornamenten neben ein Buch Charles Darwins über Orchideen, die Neuronen-Zeichnungen des spanischen Naturforschers Santiago Ramón y Cajal und die Architekturzeichnungen des italienischen Bauingenieurs Raimondo Tommaso d’Aronco, der Ende des 19. Jahrhunderts zum Chefarchitekten von Sultan Abdülhamit II. avancierte. Deswegen finden die Besucher ein Buch des deutsch-österreichischen Naturforschers Karl von Frisch über den Tanz der Bienen, ein Schwarzweiß-Video des amerikanischen Naturforschers William Irvine über das Phänomen von Knotenbildungen in Flüssigkeiten oder die Bilder des brasilianischen Umweltaktivisten und Malers Frans Krajcberg.
Vor allem finden sich hier aber die Zeichnungen der britischen Sozialistin, Feministin und Theosophin Annie Besant (1847-1933). Dem 1901 erschienen Buch „Thought forms“ der Wissenschaftlerin, die Hinduismus und Ariertum erneuern wollte, hat Bakargiev den Titel ihrer Schau entlehnt. In 30 farbigen Zeichnungen lässt sich Besants Versuch nachvollziehen, den unsichtbaren „Denkformen“ – Bildern des Unbewussten, Unsichtbaren, Geahnten – einen ästhetischen Ausdruck zu verleihen. Natürlich ist es ein bisschen abseitig, Und wird am Ende Bakargiev darin Recht geben, Besant als eine Vorläuferin der malerischen Abstraktion einzustufen.
Die Natur ist schön, so lautet eine der Botschaften dieses, „Channel“ genannten Parcours, die Methoden der Wissenschaft sind es auch. Hartnäckig lotet Bakargiev solche Überlappungszonen aus, stellt die Grenzen zwischen Kunst und „Nicht-Kunst“ in Frage. Bakargievs Interesse an den Grenzgängern zwischen Wissenschaft, Parawissenschaft und Kunst birgt die Gefahr der Ästhetisierung des „bloß“ wissenschaftlich Gemeinten. Konfrontiert aber immer auch mit der Frage, wo die Kunst anfängt und wo sie aufhört.
Letztgültig entschieden ist mit Bakargievs Biennale natürlich nicht, ob wir uns von einem historisch gewordenen Begriff der Kunst verabschieden müssen – so erklärte sie jüngst ihr Anliegen auf einer Konferenz zum 60ten Jubiläum der (2012 auch von ihr kuratierten) Documenta. Wer das als Sakrileg am Allerheiligsten empfindet, sollte keine Biennale besuchen. Wo, wenn nicht hier sollte gegen den Strich der gängigen Paradigmen und Anschauungen argumentiert werden?
Smartfon im Salzwasser
Natürlich ist Bakargievs „Channel“ selbst eine „Thought Form“. Metaphorisch schließt er den Kanal Bosporus mit dem Salzionenkanal kurz, der für den Energiestoffwechsel der menschlichen Zelle überlebenswichtig ist. Er verlinkt also Topologisches, Biologisches und Philosophisches. Und Technikkritik und Natureuphemismus umspülen sich bei der streitlustigen Italoamerikanerin so wie Salz- und Süßwasser im realen Bosporus. Smartfone, hatte sie wiederholt gelästert, geben beim Fall ins Salzwasser den Geist auf, korrodieren (anders als in Süßwasser), der Mensch aber kann nicht leben ohne Salz. Leider loten zu wenige Arbeiten diesen (natur-)philosophischen Kern ihrer Schau wirklich aus.
Das unaufhörlich Salzwasser pumpende Schlauchsystem, das die türkische Künstlerin Pinar Yoldas auf einem Boot auf Büyükada installiert hat, wirkt genauso hilflos angesichts dieser komplexen Thematik wie die Formel, die der britische Künstler Liam Gillick an die dem Bosporus zugewandte Außenmauer des Kunstmuseums Istanbul Modern im alten Warenhafen Istanbuls angebracht hat – eine Adaption der berühtem Gleichung Daniel Bernouills, des niederländisch-schweizerischen Mathematikers zur Strömungslehre. Immerhin ziehen sich die Arbeiten der 80 eingeladenen Künstler in 35 Venues wie in einem weit verzweigten Kapillarsystem durch die riesige Stadt.
Zu den beeindruckendsten Momenten gehört dabei der Besuch in den Redaktionsräumen der armenischen Zeitschrift Agos im Stadtteil Harbiye, wo bis zu seiner Ermordung im Januar 2007 der Journalist Hrant Dink wirkte. Was auch die Frage beantwortet, ob diese Biennale zu der explosiven politischen Lage passt: Kunst, so lässt sich bilanzieren, kann keine politischen Konflikte befrieden. Gegen die Exzesse der Gewalt öffnet sie aber immer wieder Räume für den friedlichen Diskurs, der weiter reicht als bis zur nächsten Wahl, zur nächsten Demonstration.
Am Ende eines dieser langen Wege steht man dann vor den Tierstatuen, die der junge argentinische Bildhauer Adrián Villar Rojas auf ins Wasser montierte Betonplatten an den Strand vor der verfallen Exil-Villa Leo Trotzkis auf Büyükada stellte: Verstörende Zwitterwesen aus weißem Kunststoff und verrottender Natur: Holz, Zweige, Federn. Bei allen esoterischen Untertönen der Kuratorin: Es sind Momente wie diese, die die mitunter magische Anziehungskraft von Bakargievs Biennalen erklären.
Im Anadolu Club
Wenn Kritik angebracht ist an der Istanbul-Biennale, dann eher, wie sie sich sozial verortet. Von Hans-Ulrich Obrist bis Klaus Biesenbach war der VIP-Auftrieb in diesem Jahr hochkarätig wie nie. Und wenn die Biennale symbolisch Solidarität mit Flüchtenden und Bedrängten hätte demonstrieren wollen, hätte sie ihren VIP-Empfang sicher nicht im noblen Anadolu Club auf Büyükada zelebriert – traditionell Treffpunkt der Istanbuler Upper-Class der 60er Jahre.
Unterm Sonnenbaldachin sprachen Orhan Pamuk als Vorsitzender des neugegründeten Freundeskreises der Biennale und William Kentridge Freundlichkeiten und sangen das Loblied der Sponsoren. Ein Hauch von High-Society hat sich über eine Schau gelegt, die in den knapp 30 Jahren ihres Bestehens das Interesse auf sich gezogen hatte, weil sie alles Klassische und Etablierte früh und radikal verabschiedet hatte.
Die Reste demokratischer Gegenöffentlichkeit traf man eher auf der Vernissage im unabhängigen Schauraums Depo in Galata. Dort eröffnete zeitgleich mit der Biennale eine Schau mit zeitgenössischen Künstlern der armenischen Diaspora „Grandchildren. New Geographies of belonging“. Hier schwamm man wieder im „Salzwasser“ des Widerständigen, das der blockierten „Zelle“ Türkei erst wieder neue demokratische Energien zuführen wird.
Ingo Arend
http://14b.iksv.org/
http://www.depoistanbul.net/en/activites_detail.asp?ac=134
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