Prestige und Previews
Die Biennale von Venedig ist die älteste der Welt. Sie steckt aber noch immer im Widerspruch zwischen Universalanspruch und Nationalgehäuse
„Mutter aller Biennalen“. So werden die Kunstfreunde die Biennale von Venedig auch in diesem Jahr wieder rühmen. Die Formel führt freilich auf glitschiges Terrain. Natürlich markiert die 1895 gegründete Schau, die am Wochenende zum 56. Mal öffnet, eine Art Ur-Szene des ausufernden Biennale-Betriebs heutiger Tage. Doch das Mutterbild provoziert unweigerlich die Frage: Wer sind die Väter der weltweit 200 Biennalen heute? So viele Kinder sind selbst für eine robuste Mutter zu viel. Und überhaupt: Wer Kultur biologisch erklärt, will sich gegen Kritik immunisieren: Mütter sind bekanntlich sakrosankt. Mütter kritisiert man nicht, man respektiert sie.
Naturwüchsige Ehrerbietung passt aber weder zur zeitgenössischen Kunst, noch sollte man sie einer Biennale erweisen, die sich nichts anderem als dem berüchtigten Standortmarketing verdankt. Ende des 19. Jahrhunderts wollte Venedigs Bürgermeister Riccardo Selvatico den Tourismus ankurbeln und die Kunstmarkt-Konkurrenten London, Paris und München aus dem Feld schlagen. Das Schaulaufen milliardenschwerer Oligarchen und das Dickicht spektakulärer „Eventi Collaterali“, die die Kunstschau heute bis zu Unkenntlichkeit umwuchern, führen den Geist dieser frühen Event-Ökonomie nur fort, der die Biennale entstammt. Viele Jahrzehnte war die Biennale eine reine Verkaufsveranstaltung.
Der rührige Bürgermeister wollte mit seiner Biennale zwar, wie er damals schrieb, auch die „brüderliche Verständigung aller Völker“ fördern. In Venedig auszustellen, ist heute aber eine Sache des nationalen Prestiges. Wie sich an der stetig wachsenden Zahl „nationaler Pavillons“ sehen lässt, die jedes Jahr in den Palazzi der sterbenden Stadt eingerichtet werden. 1999 ironisierte der thailändische, in New York lebende Künstler Rirkrit Tiravanija das Nationalitätenprinzip, als er zwischen dem kommerziellen Buchpavillon und dem US-amerikanischen Pavillon schräg gegenüber eine Holzplattform installierte und zum Thailändischen Pavillon“ erklärte. Was einen langen Streit zur Folge hatte, ob das hölzerne Geviert nun exterritorialen Status genieße wie die anderen Häuschen. Und niemand hätte sich in diesem Jahr wahrscheinlich gewundert, wenn der April-Scherz des Kunst-Magazins „Hyperallergic“ wahr gewesen wäre: Das hatte gemeldet, die Terror-Organisation ISIS plane einen eigenen Pavillon während der Biennale, zu dessen Programmpunkten es gehört hätte, Kunstwerke und historisches Kulturgut mit einem goldenen Auktionshammer zu zerstören und Videos der Performances in alle Welt hinaus zu senden. Als Give-aways hatten die ISIS-Kuratoren schwarze Jutetaschen vorgesehen.
Mehr noch als die fragwürdigen Gehäuse selbst, ist diese Haltung, immer wieder das nationale Prinzip zu reklamieren, anachronistisch in Zeiten der Globalisierung. Die Biennale ist dadurch zwar internationaler geworden. Die Zahl der Nationen hat sich in den letzten 15 Jahren mehr als verdoppelt. In diesem Jahr nehmen 88 Nationen teil. Diese Haltung schreibt aber die fatale Idee des 19. Jahrhunderts fest, die Kunst sei die ideale Verkörperung der nationalen Identität. Viel zu selten trauen Kuratoren sich, dieses, dem surrealen Giardini-Areal gleichsam architektonisch eingeschriebene Dogma, zu unterlaufen. 2009 stellte Kurator Schafhausen den britischen Künstler Liam Gillick im Haus „Germania“ aus. Vor zwei Jahren tauschten Deutschland und Frankreich die Pavillons. In diesem Jahr wird es einen eigenen Pavillon für KünstlerInnen der armenischen Diaspora geben.
Spätestens seit 1989 führt der Weg von der transatlantischen Moderne zur polyzentrischen Globalkunst des 21. Jahrhunderts, strebt das Biennale-System zur Peripherie. In Berlin fällt die Mauer. In Paris stellt der Kunsthistoriker Jean-Hubert Martin in seiner Schau „Magiciens de la terre“ im Centre Pompidou hundert Künstler aus allen Kontinenten gleichberechtigt und kommentarlos nebeneinander. Aber Venedig sitzt immer noch in der Falle zwischen Universalanspruch und Nationalgehäuse.
Die neuen Biennalen, die seitdem entstanden, sagen auch etwas aus über die Inflationsgefahr eines erfolgreichen Formats. Sie zeugen aber weniger von der Strahlkraft eines großen Vorbildes. Sie verdanken sich vielmehr dem explodierenden Repräsentationsbedürfnis außerhalb der euroamerikanischen Moderne. Das stand schon hinter der 1946 gegründeten Biennale von Sao Paulo. Das belegt der Erfolg der kleinen Newcomer-Biennale von Kochi-Muziris in Indien in diesem Frühjahr. Das zeigt sich bei der nahezu unbekannten Fotobiennale von Bamako im nordafrikanischen Mali im kommenden Herbst. Das gilt selbst für die gute, alte Documenta. Kurator Adam Szymczyk will sie 2017 bekanntlich zu einer Nord-Süd-Achse Kassel-Athen umbauen.
Nicht zufällig findet man so oft das Wort „beyond“ in den Mottos der neuen Biennalen. Das unscheinbare Wörtchen steht für die Suche nach einem Jenseits: Jenseits der Westkunst, jenseits von Kolonialismus, Nationalismus und Traditionalismus. Diese Biennalen pfeifen auf Prestige und Cocktailparties, Wertsteigerung und Aufmerksamkeitsökonomie, Ausstellungswert und Medienecho. Sie stürzen sich ins politästhetische Cross-Over, legen ihre Biennalen als Bildungsparcours für die (meist unterentwickelte) Region aus und wollen globale Probleme lokal verständlich machen. Ihnen geht es um Bewusstseinsbildung und Wissenstransfer.
Als Touristenattraktion und Vernissagen-Kulisse werden die Puppenstuben eines überholten Weltgeistes an der Lagune überleben. Als Gehäuse des „Post-Westernism“, von dem Okwui Enwezor spricht, taugen sie auf Dauer nicht. Dem herausragenden Ausstellungsmacher wäre noch am ehesten zuzutrauen, dass er der ehrwürdigen Mutter Venedig in diesem Jahr ein lange vermisstes Glanzlicht aufsteckt. Die postkoloniale Documenta 11 des Jahres 2002, die der nigerianisch-amerikanische Kurator ausrichtete, ist in die Biennalen-Geschichte eingegangen. Unter dem Motto „All the World’s Futures“ kuratiert Enwezor in diesem Jahr die große Kunstschau parallel zu den Pavillons in den Giardini. Dennoch: Venedig ist nicht mehr die eine Biennale für alle, sondern eine unter vielen.
Ingo Arend schreibt als „taz“-Autor über Kunst und Politik. Er ist Mitglied im Präsidium der neuen Gesellschaft bildende Kunst (nGbK) und lebt in Berlin.
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