Ein Europäer in der DDR
Kunst in der Diktatur: Das Berliner Kupferstichkabinett zeigt das einzigartige Oeuvre des Graphikers und Zeichners Gerhard Altenbourg
Das, was geschieht, geschieht in dir (und nur in dir), oder es wird nicht sein“. Würde man einem Anhänger von Nicolas Bourriauds „relationaler Ästhetik“ dieses Künstler-Credo entgegenhalten, er würde einen sofort für verrückt erklären. Für den französischen Philosophen ist Kunst soziale Partizipation oder sie ist gar nicht. Und doch liefert der provokante Solipsismus dieses Satzes den Schlüssel für das Werk eines der unbekanntesten, aber bedeutendsten Künstler aus Deutschland.
Gerhard Altenbourg, von dem das verwegene Zitat stammt, trieb die gern beschworene „Asozialität“ des Künstlers in ein ungekanntes Extrem. Der 1926 in Rödichen-Schnepfenthal als Gerhard Ströch geborene Mann, der Zeit seines Lebens im elterlichen Haus in der thüringischen Kleinstadt Altenburg wohnte, hasste Störungen. Er mied Kontakte zur Obrigkeit und wollte nicht von der Arbeit abgehalten werden. Am liebsten hätte er im Winter 1969 vermutlich auch den unangekündigten Besuch Solgärd und Rolf Wolters verpasst.
Das schwedisch-deutsche Sammlerehepaar aus Stockholm erwarb seit dieser Zeit rund 100 Zeichnungen, Aquarelle und Grafiken von dem eigenbrötlerischen Mann, der sich nach seinem Wohnort nannte. Diese Arbeiten bilden den Grundstock der großartigen Ausstellung „Das gezeichnete Ich“, mit der das Berliner Kupferstichkabinett das Werk eines genialischen Einzelgängers neu erschließt.
Die von der profunden Altenbourg-Kennerin Anita Beloubek-Hammer überzeugend kuratierte Schau verdankt sich dem Erwerb der kostbaren Privatsammlung durch die Berliner Museen. In dem Jahr, in dem sich der Fall der Berliner Mauer und die Wiedervereinigung zum 25. Mal jähren, kommt sie gleichwohl politisch zur rechten Zeit. Lässt sich an Altenbourgs Ouevre doch mustergültig studieren, wie geistiger Widerstand in der Diktatur möglich war. An der Jahreswende 1949/50 schuf der damals Dreiundzwanzigjährige die Zeichnung „Stalins Geburtstag“.
Am Vorabend des 70. Geburtstags des sowjetischen Diktators zeichnete er diesen als ebenso formloses wie furchteinflößendes Monster mit Zwiebelturm auf dem Kopf und mit einer Greifenklaue statt einem Fuß. Prompt wird der angehende Künstler wegen „fachlichen und gesellschaftlichen Außenseitertums“ von der Weimarer Hochschule für Baukunst und bildende Künste exmatrikuliert, wo er seit 1948 studiert.
Altenbourg zieht sich in eine, heute unvorstellbare, innere Emigration zurück und bringt ein Werk hervor, welches es an Opazität, Filigranität und handwerklicher Meisterschaft mit den Großen der Weltkunst auf sich nehmen kann. So direkt politisch wie bei seinem Stalinbild argumentiert Altenbourg nie wieder. „Unermeßliches, das herüberschaut“ oder „Bewegungen über dem Schweigen“ lauten Titel seiner Arbeiten.
Als Symbol seines existenzialistischen Credos lässt sich eher ein Werk wie „Ecce Homo“ aus dem Jahr 1950 heranziehen. Die fast zwei mal drei Meter messende Kreidezeichnung eines Menschen mit hoch in die Luft erhobenen Händen sieht aus wie eine Kreatur, der man die Haut bei lebendigem Leib abgezogen hat.
Dem mythisch überhöhten Individualismus Altenbourgs, wie ihn keine FDP besser erfinden könnte, der Selbststilisierung als Künstler, begegnet man heute reserviert. Besonders an dieser frühen Arbeit lassen sich aber dessen biografische Quellen ablesen: „Ich war ausgelöscht, als Individuum ausgelöscht“ schrieb er in einem Romanversuch 1946, in dem er seine Erlebnisse als siebzehnjähriger Soldat verarbeitete. Das Trauma, im östlichen Polen einen russischen Soldaten im Nahkampf mit dem Bajonett getötet zu haben, verfolgte ihn lebenslang.
Wie kaum eine andere ist die Kunst Gerhard Altenbourgs Kunst fortan Arbeit im „Ich-Gestein“ – Titel einer anderen, delikaten Tusche-Arbeit aus dem Jahr 1966. Die subtilen Strichzeichnungen, Lithographien, Holzschnitte und Radierungen stehen für die exemplarische Selbsterforschung, aber auch die Selbstbehauptung des Ich – gegen Kollektivismus und Realismus. Altenbourg ist über die Kunst im Westen informiert. Freunde wie das schwedische Ehepaar schmuggeln für ihn Kataloge und Literatur nach Altenburg. Dennoch meidet er jede Mode, orientiert sich strikt am, an seinem, In- statt an irgendeinem Abbild.
Das charakteristische, unendlich feinnervige Liniengespinst, das der dabei schuf, oft mehrfach übereinandergelegt, bewegt sich zwischen Surrealismus und Art Brut, zielt auf das Überreelle, erinnert an Paul Klee und Jean Dubuffet. Altenbourgs ästhetische Referenzen weisen ausgerechnet diesen paradigmatischen Eremiten als einen Europäer in der DDR aus. Seine Kunst ist eines der leuchtendsten Beispiele, mit der sich die nach der Wende hartnäckig verbreitete These widerlegen ließe, die Kunst in der DDR sei eine zu vernachlässigende Fußnote der Kunstgeschichte beziehungsweise von minderem Wert.
So klar die Ablehnung des Systems DDR war. Eine Übersiedlung in den Westen hatte der Künstler stets abgelehnt: „Im Sozialismus und im Kapitalismus wird man geboren und stirbt man. Im Sterben aber ist das Ich ganz allein, da hilft kein Sozialismus und kein freier Markt“, erklärt er einem Freund 1987. Und so kam es: Am 30. Dezember 1989, kurz nach dem Mauerfall, starb der gesellschaftsscheue Einzelgänger bei einem Autounfall.
Ingo Arend
taz 31.3.2015
Bilder: VG Bild-Kunst, Bonn 2015
Gerhard Altenbourg: Das gezeichnete Ich
Kupferstichkabinett, Berlin,
noch bis zum 7. Juni 2015
Katalog, Imhof-Verlag, 29,95 Euro
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