Was (alles)zwischen zwei Klammern passt
Hellgrüne, flaschengrüne oder moosgrüne Rechtecke: schmale Farbflecke, übereinander gereiht. Es gehört schon Mut dazu, die zentrale Haupthalle der Berliner Kunst-Werke (KW), exakt jenen Raum, in dem vor zwei Jahren die Occupy-Aktivisten von Artur Zmijewskis 7. Berlin-Biennale ihr Quartier aufschlugen, mit einer schier endlosen Serie filigraner Gouachen zu bestücken. Auf weißem Grund, säuberlich gerahmt, von fast philatelieverdächtigem Format, zeigen sie unmerklich variierte Formen: Landschaftsskizzen, Parzellengrundrisse, verschlungene Linien, gelegentlich mit Aufzeichnungen ergänzt, die mit Bleistift neben die Farbareale gesetzt sind.
Wer will, kann in IRENE KOPELMANS Arbeiten „The Exacte Opposite of Distance“ (2012) „Sampling Green“ von 2012 und „Vertical Landscape“ (2014) des Biennalen-Pudels Kern sehen. Setzt das vielteilige Werk der 1974 geborenen Künstlerin doch geradezu vorbildhaft die Idee von den “Überschneidungen von größeren historischen Narrativen und dem individuellen Leben”1 um, die Juan A. Gaitan vorab zu einem Kernanliegen seiner Biennale gemacht hatte. Denn in diesen, auf den ersten Blick seriell anmutenden Arbeiten hat Kopelman Reisen in Panama „protokolliert“.
Auf ihnen erkundete sie Formen und Veränderungen des Ökosystems in diesem Teil Mittelamerikas. Die Bilder abstrahieren zwar die Eindrücke der Künstlerin. Und spielen so auf die Verfahren an, die Natur zu kategorisieren und zu abstrahieren. Sie erheben aber keinen Anspruch auf wissenschaftliche Genauigkeit oder Maßstabstreue. Vielmehr sind sie so etwas wie das visuelle Tagebuch der argentinischen Künstlerin. In denen sie subjektiv, emotional, ästhetisch auf das große Narrativ unserer Zeit reagiert: Das Verhältnis des Menschen zur Natur, deren Veränderung an ihr, den Raubbau, den drohenden Ökozid.
Als weltpolitische Entsprechung von Kopelmans Arbeit ließe sich TONELS Arbeit „In the History of Velcro“ aus dem Jahr 2009 deuten. Der kubanische Künstler thematisiert in einer ähnlich materialreichen Installation sein Verhältnis zum Karibiksozialismus des Fidel Castro. Er will die subjektive Perspektive auf das historische Narrativ der Revolution betonen, das für das 20. Jahrhundert charakteristisch war. Deshalb hat er unter die Bilder der ehemaligen Führer des mit Kuba verbündeten Ostblocks, die er damals im Fernsehen sah, ihre Vornamen geschrieben. Dass eines der drei Bücher, die auf einem Tisch in der Mitte des abgetrennten Raumes liegen, mit einem Porträt des Künstlers endet, macht das Verhältnis deutlich, um das es Tonel geht: ich und die Geschichte.
Auch wenn es angesichts solcher, thematisch konzentrierter Strecken gelegentlich so aussehen konnte: Um irgendeine monothematische Durchhalteübung geht es Gaitan bei der 8. Ausgabe der 1998 gegründeten Schau nicht. Auf den ersten Blick verwirrt seine Biennale, weil man die ganz große These vermisst. Und sie von keinem generellen, philosophisch, literarisch oder politisch aufgeladenem Motto überwölbt ist. Die genervten Rezensenten lamentierten unmittelbar nach der Eröffnung über den fehlenden politischen Schwung. Und offenbarten damit unfreiwillig, wie stark sie von der gefürchteten „Biennalen-Kunst“ geprägt sind. Besser gesagt: Von einer bestimmten, meist mit „intervenierend“ bezeichneten, am Ende oft genug doch nur pseudo-“politischen” Kunst.
Insofern offenbart die Schau auf der Rezeptionsebene auch und vor allem ein markantes Dilemma der Kritik. Hatte Zmijewskis 7. Ausgabe der Biennale 2012 noch die heftige Kritik derselben Presse hervorgerufen, weil sie Kunst und Aktivismus theoretisch und praktisch gleichschalten wollte, war ihr Gaitáns Rückbesinnung auf die symbolischen Welt-Erhebungen, Welt-Deutungen und Welt-Entwürfe nicht eingreifend genug. Statt schmissiger Slogans und handfester politischer Konflikte sah sie sich mit einer ebenso subtilen wie präzisen Hinterfragung von Mechanismen der Repräsentation, Perzeption und Präsentation konfrontiert. Das Bild der ungeduldig vor IMAN ISSAS Installations-Serie „Lexicon“ (2012) hin- und her laufenden Kritiker kann man als Schlüsselbild der 8. Berlin-Biennale deuten. So wie sie da gezwungen waren, all ihr Imaginationsvermögen zusammen zu nehmen, um hinter den Zusammenhang von Text, Begriff und Objekt zu kommen, den der ägyptische Künstler mit der Kombination von Texten, dreidimensionalen Objekten und Begriffen wie „Monologist“, „Fortune“ oder „Colonial Houses“ zu evozieren versuchte.
Ein ähnlicher Vorgang ließ sich im Haus am Waldsee beobachten. Wo der schwedische Künstler MATTS LEIDERSTAM mit den Werken „The Connoisseur’s Eye“ (2014) und „Unknown, unkown“ (2014) Fragen nach der Wiedererkennbarkeit und der Herkunft von Bildern nachgeht. Anhand von Material des Archivs des Nationalmuseums in Stockholm und der Berliner Gemäldegalerie fragt er nach dem schwankenden kulturellen Wert solcher Artefakte im Laufe der Jahrhunderte. Fragen nach den Bedingungen und Mechanismen von Wahrnehmung und der sozialkulturellen und institutionellen Produktion von Bedeutung gelten als unpolitische Spielerei. Wahrscheinlich warfen Viele der Biennale deswegen Mutlosigkeit und Angst vor der politischen Kontroverse vor.
Ein Kritiker vermisste die konflikthafte Auseinandersetzung mit dem Erbe des Kolonialismus2. Eine andere Kritikerin vermisste die Konzentration auf die Kritik urbanistischer Fehlentwicklungen in Berlin3. Und in Formulierungen wie der, die Berlin-Biennale beschäftige sich mit dem Erbe des Kolonialismus „formal versöhnlich“ glomm der Kern eines neuerlichen Formalismusstreits4. Derlei Reaktionen demonstrieren die Kehrseite des Biennalen-Booms. Die semantische und inszenatorische Überbietungslogik, mit der Biennalen sich weltweit zu positionieren versuchen, verengt den ästhetischen Reflexionsraum. Biennalen mit kraftvollen Gesten oder effektvollen Konzepten haben mehr Chancen, als Erfolg verbucht zu werden als solche, die „leise“ daherkommen.
Doch so unaufgeregt, verhalten und formbewusst die Biennale auch daher kommt:: unpolitisch, ohne Bezug zur sozialen, ökonomischen und kulturellen Realität ist sie keineswegs. Wenn BIANCA BALDI in ihrem Video Zero Latitude (2014) stilvoll gekleidete Männer ein Feldbett aus einem Koffer auspacken lässt, das die Firma Louis Vuitton 1905 für den italienisch-französischen Kolonialwissenschaftler Pierre Savorgnan de Brazza entwickelt hatte, geht es um das Erbe des Kolonialismus. Wenn der griechische Architekt ANDREAS ANGELIDAKIS schon zur Einstimmung auf die Biennale, vier Monate vor der Eröffnung, in den KW ein Arrangement alter folkloristischer und handgewebter Teppiche aus ländlichen Gebieten Griechenlands vor einer Wandtapete der Akropolis zu einem Versammlungsort namens „Crash-Pad“ formierte, spielt er auf den ersten griechischen Staatsbankrott 1893 an, unmittelbar nach der Gründung als Nationalstaat. Damals trat schon einmal eine europäische Troika in Athen auf.
Wenn die indische Künstlerin SHILPA GUPTA in ihrer Arbeit „100 fake names to enroll children into school in the neighbourhood“ (2014) das Problem indischer Enklaven in Pakistan und pakistanischer Enklaven in Indien dokumentiert, greift sie nicht nur die Schicksale konkreter Menschen auf, sondern auch den fatalen Trend nach dem ethnisch homogenen Nationalstaat. Die Reihe ließe sich bis hin zu den Karikaturen des indischen Zeichners Gaganendranath Tagore fortsetzen, mit denen dieser zu Beginn des 20. Jahrhunderts die britische Kolonialherrschaft in seinem Land aufs Korn nahm. Bei diesen Werken handelt es sich um durchaus schwere, politische Kost. Die stille Präzision, der elegante Minimalismus, mit der sich das modische Accessoire des Feldbetts in dem knapp 10-minütigen Video Baldis – im wahrsten Sinne des Wortes – entfaltet, machen eines der Paradigmen dieser Biennale aus. Konsequent fragt Gaitáns Schau nach den Maßverhältnissen der Kunst ebenso wie nach denen der Politik.
Dabei tut sie es so zart, wie es die ästhetische Praxis des 71-jährigen indischen Künstlers VIVAN SUNDARAM charakterisiert. Bei ihm ist die Tatsache, dass die feinen Zeichnungen seiner Serie From the First World / From the Third World (1991) mit Motorenöl und Holzkohle gezeichnet sind, schon das politische Statement. Was Sundaram mit ihnen thematisiert, ist dieser Kunst quasi in das künstlerische Material geschrieben. Nicht so sehr in das Motiv – Landschaften, Waffen oder Kriegshandlungen sind so filigran und höchstens angedeutet – dass den Bezug zu Sundarams Themen: Öl- und Geopolitik, den Militarismus im Nahen Osten und der Erste Golfkrieg darin nur ausmachen kann, wer sich diese Bilder lange und aufmerksam anschaut. Politisch, aber nicht eindeutig definierbar – an Sundarams Arbeiten lässt sich jener Qualitätsmaßstab exemplifizieren, der gerade der politische Kunst in der Regel abgeht oder den sie explizit ablehnt. Der neuerdings aber auch bei zeitgenössischen Theoretikern progressiver Provenienz wieder verstärkt Beachtung findet: Der Widerstand gegen die „Logik der Identifikation“ und das „Ereignis des Unbestimmbaren“5.
Gaitáns Biennale verfolgt ihre politischen Anliegen mit dem Interesse an der künstlerischen Qualität. Jedes der Werke der eingeladenen Künstler verrät, dass es ihm um das Verhältnis von politischer Aussage und ästhetischer Form geht. Gleichwohl macht Gaitáns Biennale aus diesem jump back into the aesthetics kein Dogma, das drohend in der Landschaft steht. Oder dem Rest der “Gegenwartskunst” auf der Welt den Weg für die nächste Dekade weisen wollte. Sie verfällt auch nicht in die einengende Scholastik, mit der Adriano Pedrosa und Jens Hoffmann im Jahr 2011 mit ihrer 12. Istanbul-Biennale die Kunstwelt dazu verdonnerten, die politische Kunst möglichst doch mit dem Alphabet des kubanischen Künstlers Félix-Gonzáles Torres zu buchstabieren.
Die beiden schwarzen Klammern, die als markantes Logo von Gaitáns Schau dienen, spielen offen mit einem in der narzistischen Biennale-Welt selten gewordenen, kuratorischen Understatement. Wer etwas in Klammern setzt, nimmt ihm die Wichtigkeit, gibt es als Nebenschauplatz aus. Doch die optischen Symbole signalisieren auch, dass es Zwischenraum gibt, in dem die Kunst genügend Platz hat, um sich zu entfalten. Und der Betrachter des Parcours nicht nur Belegstücke für irgendeinen überwölbenden Biennale-Slogan abhaken muss.
Um das Verhältnis Individuum-Geschichte auszuloten, hätte der Kurator seine Biennale nicht zwingend nach Dahlem verlegen müssen. In Interviews vorab hatte Gaitán sich verwundert über die Versuche der Berliner Stadtplanung gezeigt, mit dem architektonischen einen geistigen Kurzschluss zwischen dem 19. und dem 21. Jahrhundert herzustellen und dabei das 20. Jahrhundert zu überspringen. Der Standort Ethnologisches Museum in der Villen- und Gartenstadt im Südwesten Berlins ist vielleicht noch das deutlichste politische Statement Gaitáns. Denn wenn der 1967 wiedereröffnete Bau etwas demonstriert, dann die Architektur der deutschen Zwischenkriegs- und Nachkriegszeit, die der postmodernen Berliner Investitionsarchitektur weichen muss. Zusammen mit dem wenige Kilometer entfernten Haus am Waldsee, dem dritten Biennale-Standort, ist der schlichte Zweckbau Gaitáns deutlicher Kontrapunkt gegen den grassierenden Mitte-Hype, dem bislang noch fast alle Biennalen erlegen waren, beziehungsweise den sie mit ausgelöst hatten.
Nicht nur im Interesse der Binnenlogik der Berliner Biennale war es höchste Zeit für eine symbolische Gegenbewegung. Schon Maurizio Cattelan, Massimiliano Gioni und Ali Subotnick hätten ihre vielbeachtete, 4. Berlin-Biennale „Of Mice and Men“ (2006) besser nach Marzahn verlegt. Und die Scheinwerfer der Aufmerksamkeit nicht erneut auf die, längst zum Boulevard der Besserverdienenden herabgesunkene Auguststraße richten lassen. Auch wenn sie im Jahr 2014, wo der alte Berliner Westen mit dem Umzug der C/O-Fotogalerie in die Nähe des Bahnhof Zoo oder der Wiedereröffnung des Bikini-Hauses eine Renaissance feiert, fast wie der Nachvollzug des Stadtmarketing wirkt.
Immerhin: Diese Geste hat Gaitán nun nachgeholt. Zusammen mit dem Haus am Waldsee, einer für einen jüdischen Unternehmer in den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts gebauten, romantischen Villa, bewegt sich die Berlin-Biennale in diesem Jahr in einer neuen, spannungsreichen, historisch-topologischen Matrix. Bei der grundsätzlichen Biennale-Frage, ob dieser Ausstellungsmodus wirklich zu einer Kraft werden kann, die nicht nur die Gentrifizierung und Kommerzialisierung bislang peripherer Räume akzeleriert, sondern alternative Entwicklungsrichtungen anstoßen kann, darf man trotzdem skeptisch bleiben.
Die in Dahlem präsentierte Kunst nimmt die Fragen der Aufmerksamkeit für die stadträumlichen Entwicklungsrichtung eher indirekt auf. So melancholisch wie in ROSA BARBAS Film Subconscious Society (2014) der Blick der Kamera über ein altes Industriekraftwerk, über seltsame Gesteinsformationen an der englischen Küste oder die Wüste um die texanische Stadt Marfa schweift, gleicht das einer archivierenden Suche nach den Überresten einer dystopischen Vergangenheit. Das Werk drückt also mehr eine historische Haltung aus, als dass es eine bestimmte Vergangenheit grell inszeniert. Sie funktioniert als Bindeglied zwischen der Frage nach der Stadtgeschichte ebenso wie nach der in Dahlem fixierten (Kolonial-)Geschichte.
Wenn der Berliner Künstler OLAF NICOLAI das schwarz-weiße Bodenornament eines leerstehenden Shopping-Centers aus dem Stadtteil Lichtenberg in neu gemischter Form auf den Boden des Foyers der Museen in Dahlem aufbringt, dann thematisiert er die, in eine seltsame Schieflage geratene Topographie der Stadt. Er bringt den extremen Westen und den extremen Osten zueinander. Und er visualisiert die Verdrängungsprozesse, die damit einher gegangen sind: Das Einkaufscenter im Osten überlagert das Museum, das Museum zieht bald in das falsche neue Barockschloss in der Berliner Stadtmitte. Dort, wo einst der Palast der Republik stand.
In Nicolais Arbeit schieben sich verschiedene historische und urbane Wahrnehmungsdispositive und Bezugsebenen übereinander. Ganz abstrakt stellt der deutsch-französische Künstler SAÂDANE AFIF die Frage nach der Verknüpfung von Orten und Zeiten in seiner Installation La-bas (2014) mit seinem Miniaturnachbau eines Bahnsteigs des Bahnhofs von Düren. Der Titel des Werks, das zugleich in einem Raum des Museums in Berlin-Dahlem und dem des Hoesch-Museums in Düren steht, verweist auf die Reflexion der Frage nach Hier und Dort. Rosa Barba, Nicolai oder Afif: Es sind solche, unspektakulär inszenierten, ästhetisch-dramaturgischen double- oder triple-binds, mit denen diese Biennale überzeugt.
Gaitáns Prinzip der Verknüpfung funktioniert nicht immer. Etwa wenn die mexikanische Künstlerin MARIANA CASTILLO DEBALL auf die historischen, kulturellen und ästhetischen Mechanismen des Dahlemer Hauses selbst anspielt. Und dazu Objekte aus der Mesoamerikanischen Abteilung des Museums auf Stahlgestellen drapiert. Oder die legendäre Göttin mit dem Perlenturban, die einst eine Briefmarke der Bundespost zierte, später aber als Fälschung enttarnt wurde, auf ein Podest stellt. Die These von der Konstruktion des Anderen, der Konstruktion von Geschichte aus den Interessen der Gegenwart ist inzwischen zu einem Gemeinplatz der Erinnerungsforschung und der postkolonialen Theorie geworden. Deballs Arbeit vollzieht diesen Ansatz denkbar plump nach. Ähnlich vordergründig funktioniert CARSTEN HÖLLERS Arbeit 7,8 hz (2001).
Die „doppelte Ökonomie“6 der Aufmerksamkeitsökonomie und der Repräsentationsstrukturen musealer Objekte und künstlerischer Arbeit, auf die Höller damit in einem Raum mit präkolumbianischen Goldantiquitäten anspielt, lässt sich auch als effekthascherische Reflexion über ihren Status als Wertobjekte lesen. Die Frage nach den Implikationen des interkulturellen Dialogs, die man eigentlich in Dahlem erwartet hatte, funktioniert dann ausgerechnet in den KW in der Berliner Mitte: Bei dem wunderbar leichten, formenreichen ebenso wie formvollendeten Ensemble hybrider Holz- und Garnobjekte, das bei ANTUNES Zusammenarbeit mit dem indigenen Stamm der Kuikuro im brasilianischen Bundesstaat Mato Groos entstand. In „The last days in Chimalistac“ (2013) mischen sich westliche Moderne und lokales Handwerk – eine der schönsten Arbeiten der Biennale.
Das klassifizierende Interesse, das den wissenschaftlichen Kern von Museen wie dem in Dahlem häufig ausmacht, hat den englischen Künstler DAVID CAHLMERS ALESWORTH inspiriert. In seiner Aquarellserie Trees of Pakistan (2013/14) hält der Landschaftsarchitekt und Gartenberater Baumarten in den Großstädten seiner neuen Heimat Pakistan fest. Alesworth‘ Miniaturmalerei ist ein gelungenes Beispiel für die Konversion imperialer Techniken in eine Methode kritischer Alltagsdokumentation in den einstigen Kolonien.
Noch indirekter geht WOLFGANG TILLMANS vor. Von dem 1968 geborenen Fotografen findet man im “Eastern Woodlands Room” des Dahlemer Museums einen bunten Sneaker in einer Glasvitrine, eine Fotofolge vom Sicherheitscheck an einem internationalen Flughafen oder die Bilder ausgeweideter Krustentiere, in deren Resten ein Insekt haust. Ganz offenkundig geht es Tillmans in seiner Arbeit untitled (2014) darum, den Kontrast zwischen den gewöhnlich hier präsentierten Objekten und Situationen des modernen Alltags zu evozieren. Diese ambivalente Referenz vor dem kulturellen Hochamt Museum ebenso wie dessen Kritik ist ein subtiles, meisterhaft gesetztes Wechselspiel von kultureller Aufwertung und Profanisierung.
Wie man den ethnologischen Blick umkehren kann, zeigt ALBERTO BARAYAS in seiner Installation „Expedition, Herbarium of Artificial Plants“ (2013). Er hat das kolonialistische Inventarisierungsprinzip auf Plastikblumen und -früchte europäischer Herkunft angewandt. In leeren Wandschränken liegen nun Tableaus mit den industriell und massenhaft produzierten Kitschobjekten samt den Zeichnungen davon. Man darf gespannt sein, ob und wie das Humboldt-Forum auf dem Schloßplatz, in dem ab 2019 die Dahlemer ethnologischen Sammlungen gezeigt werden, auf diese Hinterfragung der Perspektive von Sammlungs- und Inventarisierungstechniken reagieren wird.
Gaitans schon im Vorfeld der Biennale gestreutes Statement, dass Kunst die Technik der Individuation sei, die den Mensch vor den Formierungszwängen der Massengesellschaft schützt7, ist problematisch. Klingt es doch nach einem Rückfall in die romantische Vorstellung vom Künstler als Medium des Subjektiven. Denn diese „Individualisierungstheorie“ macht auch den Kern des neoliberalen Credos aus, das das befreite Individuum und den Unternehmer parallelisiert. Auch bei der Eröffnungspressekonferenz, auf der Gaitán sie wiederholte, blieb sie unwidersprochen. Damit setzte er einen markanten Gegenpunkt zum derzeitigen Mainstream. Denn die – gerade auf Biennalen ubiquitäre – künstlerische “Feldforschung” überbietet sich gerade in der Aneignung oder Imitation der objektiven Verfahren der Wissenschaft.
Auf seiner Biennale sind es aber gerade die Momente des poetischen Szientismus, die so nachhaltig wirken, dass seine diskussionsbedürftige These fast wieder glaubhaft wird. In seinem Projekt Sector IX B Prophylaxis of Sleeping Sickness (2014) gruppiert der französische Künstler MATHIEU KLEYEBE ABONNENC Fotos, die sein Großvater, der Gesundheitsbeamte Emile Abonnenc, in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts in der damaligen französischen Kolonie Gabon unternahm. So fallen bei Abonnencs individuelle und soziale Erinnerungsarbeit zusammen. Wieder überkreuzen sich die historischen Narrative und das individuelle Leben, deren Schnittstellen Gaitán sichtbar machen will. Und so wie hier Poesie und Wissenschaft verschmelzen, entgeht Abonnenc den rationalistischen Aporien der Ansätze „Künstlerischer Forschung“ und „Epistemischer Praxis“, die in den letzten Jahren zu einem ästhetischen Paradigma der Biennalen geworden sind.
So zeigte sich die 8. Biennale als eine Biennale der Offenheit in Bezug auf ihre Themen und ihre Genres. Einzig auf dem Feld der Grenzüberschreitung hätte man sich mehr Beispiele gewünscht, die Wege aufzeigen, „die heutigen gesellschaftlichen und politischen Funktionen des Bildes als der dominanten Form der Repräsentation“8 zu widerstehen, die Gaitán vorschwebte. TAREK ATOUIS „Dahlem Sessions“ (2013-2014), bei dem er mit neun Musikerinnen aus aller Welt auf den Musikinstrumenten der Hornbostel-Sammlung, die er im Archiv des Dahlemer Hauses fand, Solostücke einspielte, war ein Anfang. Und Gaitáns These von der Zeichnung als der Inkarnation des vorläufigen Kunstwerks ist nicht ganz neu und hätte konsequenter entwickelt werden können.
Politizität – neben der Erschließung spezifischer Orte oder dem Anschluss lokaler und regionaler künstlerischer Gemeinschaften an den internationalen Kunstdiskurs – ist diese Intention zur wichtigsten Raison d’etre der Biennalen weltweit geworden. Gaitáns Biennale ist aus dem Grund wichtig, weil sie sich nicht darin erschöpft, wahllos politische Inhalte in das Kunstsystem einzuspeisen, deren zumeist dann doch nur „folgenlose Kritikalität“9 die bürgerliche Gesellschaft, die sie sponsert oder ermöglicht, am Ende nur umso deutlicher bestätigt. Dieser Methode haben sich viele der in den letzten Jahren entstandenen Biennalen extensiv bedient. In Berlin rückt Gaitán dagegen die Frage nach der ästhetischen Vergegenwärtigung politischer Inhalte ganz nach vorne. Zu Zeiten der Mediatisierung und Merkantilisierung, auch und gerade der politischen Kunst, setzt er stattdessen auf ästhetische und rezeptive Nachhaltigkeit.
Zugleich lässt sich die 8. Berlin-Biennale auch als Ergebnis einer symptomatischen Pendelbewegung beschreiben, die für das Biennale-System typisch geworden ist. Auf eine Ausgabe mit einem radikalen Statement folgt nach zwei Jahren eine Ausgabe, die dieses Statement zu relativieren sucht. So war es in Istanbul 2009 und 2011. Auf die Biennale „Denn wovon lebt der Mensch“ des kroatischen Kuratoren-Kollektivs „WHW“ folgte die 13. Istanbul-Biennale von Adriano Pedrosa und Jens Hoffmann mit dem Titel „untitled“. Die eine war ein Plädoyer für den Kommunismus. Die andere ließ sich als radikal ästhetisches Statement deuten. Wer sich deutlich absetzt, fällt auf: dieser Reiz-Reaktionsmechanismus wiederholt sich nun in Berlin.
So gesehen verkörpert Gaitáns Parcours gewissermaßen das größtmögliche Gegenprinzip zur Ausgabe seines unglücklichen Vorgängers Artur Zmijewski. Mit ihren unspektakulären, aber tiefenwirksamen Arbeiten wird die 8. Berlin-Biennale dennoch zu einem Glücksfall. Sie ist subtil, poetisch, extrem selbstreflexiv aber dennoch politisch. “Kunst muss nicht wie politische Kunst aussehen, um politisch zu sein – oder anders gesagt: Ich halte die Idee für falsch, dass abstrakte Kunst apolitisch sei.”10 Mit diesem Statement hatte Gaitán in einem Interview zum Auftakt der Biennale für eine überfällige Klarstellung gesorgt. Und versucht in seiner Schau die Maßverhältnisse zwischen Politik und Ästhetik neu auszutarieren. So überzeugend, wie er diese, sich scheinbar ausschließenden Kategorien zu verbinden versteht, ohne dass die Kunst dabei auf der Strecke blieb, hat er nicht nur für die Berliner Biennale Maßstäbe gesetzt, hinter die zurückzufallen schwer werden dürfte.
ANMERKUNGEN
1 Kuratorisches Statement der 8. Berlin-Biennale. http://www.berlinbiennale.de/about
2 Hanno Rauterberg: Ein Wunderreich der Bigotterie. In: Die Zeit vom 5. Juni 2014
3 Karin Schulz: Schwache Berlin Biennale. Ein paar Kadaver auf den Schultern. In: Spiegel online vom 28.5.2014
4 Claudia Wahjudi: Im Schatten der Befreier. Der Tagesspiegel vom 12.6.2014
5 Juliane Rebentisch: Theorien der Gegenwartskunst. Zur Einführung. Junius-Verlag, Berlin 2013, S. 109
6 8. Berlin-Biennale, Kurzführer. Hatje-Cantz, KW, 2014, S., 138
7 Juan A. Gaitán: “Ein Zentrum, das sich immer mehr entleert“. Interview in: taz – die Tageszeitung vom 23.5.2014
8 Juan A. Gaitán: Kuratorisches Statement. In: 8. Berlin-Biennale, Kurzführer. Hatje-Cantz, KW, 2014, S., 38 9 Juliane Rebentisch: ebda. S. 178
10 Juan A. Gaitán: “Das 20. Jahrhundert wird entfernt”. Interview in: Monopol. Magazin für Kunst und Leben. Juni 2014, S., 49
Ingo Arend
Der Text ist zuerst erschienen in Kunstforum – BAND 228, 2014, TITEL: BIENNALEN IN EUROPA, S. 36
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