„Sagen Sie Karl-Heinz zu mir!“ Damit hatte Renate Dinkel nicht gerechnet. Auf den Tag genau 15 Jahre nach ihrem Eintritt in die Firma bittet sie der Chef zu einem ungewöhnlichen Diktat. Direktor Melzer zieht die Gardinen zu, stellt sich hinter seinen Schreibtisch und gießt zwei Gläser Likör ein. Im weiteren Verlauf der Unterredung gerät die treue Vorzimmerdame in eine heikle Schieflage, als der grau melierte Herr sie bittet, ihr Haar zu lösen, – und schließlich mit dem Vornamen angeredet werden will.
„Liebe im Büro“, Loriots unvergessener Sketch aus dem Jahr 1977, liest sich heute wie
die cineastische Vorahnung eines gesellschaftlichen Aggregatzustandes, der sich erst 30 Jahre später voll entfaltete. Nicht nur, weil er den statistischen Befund so wunderbar ironisch in Szene setzt, dass sich mehr als jeder zehnte Deutsche während der Arbeit verliebt. Hier leuchtet das Oxymoron „emotionaler Kapitalismus“ auf. Die entfesselten Triebe der Protagonisten sind das eine. Frau Dinkels Geisteszustand lässt sich aber auch als Frühform der kreativen Energien deuten, die diesen heute befeuern: „Sie machen mich noch ganz verrückt, Herr Melzer“, stammelt die unscheinbare Frau mit Dutt und Hornbrille. Und lässt sich zu ziemlich ungewohnten Positionen hinreißen.
Das Geheimnis der Kreativität
Seitdem ist zusammen gewachsen, was nicht zusammen gehörte. In den Siebzigerjahren entdeckte Toyota, wie viel besser sich Autos in kreativen Modulen fertigen lassen. Seitdem dürfen sich Fließbandarbeiter als Künstler fühlen. Ganze Stabsabteilungen üben das „divergente Denken“, das der Psychologe Joy Paul Guildford als das Geheimnis der Kreativität ausgemacht hatte. Und kaltherzige Firmenchefs mutieren zu Emotionsmanagern. Kein Wunder, dass Funny van Dannen am Ende aufgegeben hat: „Ich will den Kapitalismus lieben, ich will und kann es nicht, und das wird so weiter geh’n, bis einer von uns zusammenbricht“, sang er einst. „Obwohl ich ihn so hasste, und ich habe scharf kritisiert. Aber er hat ein großes Herz, er hat mich voll integriert.“ Doch während der Homo Oeconomicus emotional aufrüstet, agiert das emotionale Subjekt ökonomisch. Der Künstler gefällt sich als vorbildlich flexibler Unternehmer. Wer datet, laviert sich durch ein Sortiment strategisch inszenierter Profile wie beim Einkauf im Supermarkt. Verzehrende Liebesschwüre quellen heute als Short Messages aus dem Smartphone. Direktor Melzers unbeholfenes Bekenntnis – „Sie waren mir noch nie so nahe, Renate“ – klingt geradezu prophetisch für die wachstumsfördernde Amour Fou, die Kapital und Emotion heute aneinander kettet. Ein faustischer Pakt, der aber auch nichts daran ändert, dass Liebe immer noch verdammt weh tun kann. Schwer zu sagen, wie mensch sich aus dieser Falle wieder herausmanövriert. Wenn „Negation die Kreativität ablösen“ muss, wie es Sophie Rois in René Polleschs Thesendrama „Diktatorinnengattinnen“ trotzig herausschreit, landen wir wieder in der Sackgasse des fordistischen Kompromisses: Arbeit und Liebe wären getrennt. Kreativ wäre man wieder im Hobbykeller. Ganz so absurd wäre der Gedanke an einen Liebesstreik aber nicht – in Zeiten, wo ein starkes Gefühl sich plötzlich derart „rechnet“. Wer Abstand hält, schützt seine wahren Gefühle. Vielleicht entfährt Herrn Melzer deshalb am Ende des versuchten Kreativaktes die Bitte: „Sagen Sie nicht Karl-Heinz zu mir.“
Ingo Arend, Earnest & Algernon. Ausgabe 6/2013. Themenheft „Liebe“
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