Riesiger Stolperstein der Erinnerung
„Vorbei ist nicht vorüber.“ Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, wie recht der Schriftsteller Elias Canetti mit seinem Satz gehabt hatte – der sensationelle Münchner Kunstfund dürfte ihn erbracht haben.
Allenthalben wird den Deutschen eine vorbildliche Erinnerungskultur bescheinigt. Im Lande selbst mehren sich allerdings die Stimmen, es müsse langsam genug sein mit dieser „Obsession“ – fast 70 Jahre nach Kriegsende. Und plötzlich wehte wieder der strenge Modergeruch des NS-Systems durch die Berliner Republik. Nun ist die Erinnerung nicht mehr nur ein Feld grauer Betonstelen neben dem Berliner Reichstag, sondern geradezu gruselig konkret. Opfer und Profiteure der Gewaltherrschaft, deren perfider Methoden der Enteignung und Bereicherung, sind deutlich zu erkennen. Neben allem, was der Fall des 80-jährigen Cornelius Gurlitt mit seiner Schwabinger Dunkelkammer an kunsthistorischen und juristischen Fragen aufwirft – der Münchener Kunstfund von 1400 Gemälden und Papierarbeiten ist ein riesiger Stolperstein der Erinnerung.
Ein Fall voller Skurrilitäten
Die Augsburger Staatsanwaltschaft ging mit dem Fall nicht sehr glücklich um. Ihre fragwürdige Geheimniskrämerei ließ und lässt noch immer bei dem an Skurrilitäten ohnehin reichen Fall die Spekulationen ins Kraut schießen. Mit Titeln wie „Nazischatz“ oder „Gurlitts Geheimnis“ brachen sich denn auch prompt die medialen Stereotypen Bahn, die bei dem Komplex „Nazi und Verbrechen“ oft genug eine klebrige Mesalliance eingehen. Zu einem Fall von solch erinnerungspolitischer Brisanz gehört mehr Transparenz. Zu dem Selbstbild des bewältigungsbereiten Deutschland will auch sonst manches nicht passen: das Einziehungsgesetz der Nazis zum Beispiel. 1938 verabschiedet, sollte es die Raubzüge, die sie vom Juli 1937 an in den deutschen Museen starteten, um diese von der sogenannten „entarteten Kunst“ zu reinigen, nachträglich legitimieren. Warum wurde es, ähnlich wie inzwischen viele Ehrenbürgerschaften für Adolf Hitler, nicht längst für null und nichtig erklärt? Dann gäbe es den Skandal nicht, dass Cornelius Gurlitt womöglich immer noch rechtmäßiger Besitzer solcher Arbeiten ist, die aus diesen Raubzügen stammen. Während die Restitutionsansprüche etwaiger jüdischer Besitzer inzwischen verjährt sind. Und wie konnte es sein, dass die bundesdeutsche Provenienzforschung in Sachen Raubkunst so lange ein Stiefmütterchen-Dasein führte? Viele einzelne Museen taten nach dem Krieg ihr Bestes, um die dubiose Herkunft ihrer Sammlungen zu klären. Insbesondere nach der Washingtoner Konferenz von 1998. Damals hatten sich in der US-Hauptstadt 44 Staaten, zwölf nichtstaatliche Organisationen und der Vatikan verpflichtet, die während der Zeit des Nationalsozialismus beschlagnahmten Kunstwerke zu identifizieren, deren Vorkriegseigentümer oder Erben ausfindig zu machen und eine „gerechte und faire Lösung“ zu finden. Eine Vereinbarung übrigens, der die Bundesrepublik die Erklärung nachgeschoben hatte, „NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut, insbesondere aus jüdischem Besitz“ ausfindig zu machen und zurückzugeben.
Mehr Mittel für die Raubkunstforschung
Doch erst 2008, ein Jahr nach einer Anhörung im Kulturausschuss des Deutschen Bundestages, wurde eine offizielle Stelle in Gestalt der Arbeitsstelle für Provenienzrecherche bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz eingerichtet. Sie verfügt über den viel zu geringen Etat von einer Million Euro und nur wenige Stellen. Besser ausgestattet, wäre sie womöglich früher auf die Spur nicht nur des Herrn Gurlitt gekommen. Auf die schwarz-rote Koalition mit ihrem neuen Kulturstaatsminister wartet die Aufgabe, diese Mittel deutlich zu erhöhen. Sonst dauert es womöglich 50 Jahre, bis die Herkunft der Gemälde geklärt ist. Viel spricht dafür, alle Bilder auf einer Internetplattform auszustellen, wie es der Berliner Anwalt Peter Raue fordert. Damit würden aber nur die technischen Mittel für die Erinnerungspolitik bereitgestellt, die eine Aufgabe der lebendigen Zivilgesellschaft bleiben muss. Zitieren wir noch einmal Elias Canetti: „Erinnerung ist gut, weil sie das Maß des Erkennbaren vergrößert“.
Ingo Arend, Deutschlandradio 09.11.2013
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