Religion und Prosperität – Über den Aufstieg der Türkei, die Angst von Erdogan und das neue Bagdad
Herr Akay, seit kurzem hängt der Türkei das Etikett „Turbostaat“ an. Wie erklären Sie sich den Aufstieg der Türkei zur Lokomotive der Weltwirtschaft?
Ali Akay: Er begann in den neunziger Jahren. Nach dem Fall der Mauer und dem Untergang der Sowjetunion kam die neue Bourgeoisie aus dem Osten nach Istanbul. 1992 wurde erstmals ein Satellit für privates Fernsehen und Radio in Betrieb genommen. Das Land öffnete sich, Istanbul wurde zum neuen Zentrum für die Länder des Balkans, des Mittleren Ostens und am Kaukasus. Die Stadt wurde eine Megalopole und ein ökonomisches Zentrum. Mit ihrer geopolitischen Lage wurde sie interessant für die neue Bourgeoisie, die sich in den Ländern des kommunistischen Blocks herauszubilden begann, und ein Knotenpunkt für die transnationalen Kapitalströme, die ihnen folgten.
Was bedeutete das für das geistige Klima?
Damals entstand ein Block gegen die traditionellen Kräfte des Staates. Der Diskurs damals war die Zivilgesellschaft. Und ihre Institutionen wurden zum Motor der Politik und der Wirtschaft. Der Erfolg von Erdogans AK-Partei erklärt sich auch daraus, dass sie diese Energien auf die Wirtschaft lenken konnte.
Die Kehrseite der sich selbst überschlagenden Prosperität ist die zunehmende Unfreiheit. Das prominenteste Beispiel ist die Verhaftung der beiden Journalisten Ragip Zarakolu und Ahmet Sik. Fast 70 Journalisten und Intellektuelle sitzen im Gefängnis. Orientiert sich die Türkei jetzt am chinesischen Modell?
Nein. Wer so argumentiert, müsste auch in den Kategorien der asiatischen Produktionsweise denken: ein starker Staat, der etwas Wohlfahrt gewährt. Es gibt keine wirklich große Ähnlichkeit zwischen China und der Türkei. Es gibt hier mehr als eine Partei. Und wir haben demokratische Wahlen.
Wie erklären Sie sich dann die anhaltende Repressionswelle?
Bis zum Sommer dachten die Intellektuellen in der Türkei, das kurdische Problem stehe kurz vor der Lösung. Es gab Gespräche zwischen der Regierung und dem inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan. Auch die liberalen Intellektuellen hielten enge Beziehungen zu Premier Erdogan, Präsident Gül und zur AKP. Über die Zeitungen tauschte man Ideen für eine neue Politik in der Türkei aus: gegen die Armee, gegen den starken Staat, über die Liberalisierung der Wirtschaft, die Lösung der kurdischen Frage. Liberale Zeitungen wie Taraf änderten dann aber ihre Position, die Kritik wurde wieder schärfer. Sie warfen Erdogan vor, sich wie ein Sultan zu benehmen. Nach den jüngsten Verhaftungen schieden sich die Wege endgültig.
Was war der Auslöser dafür?
Ein Motiv für den Schwenk Erdogans waren meines Erachtens die Gerüchte, dass die Ergenekon-Gruppe eine Allianz mit der PKK gegen die Regierung plante. Zu dieser Zeit kam der Premier plötzlich viel häufiger nach Istanbul. Weil er Ankara nicht mehr für sicher genug hielt. In Istanbul war er Bürgermeister gewesen, hier hat die Bourgeoisie für ihn gestimmt, die Stadtverwaltung ist in der Hand der AKP. Ich glaube, er hatte Angst. Die jüngsten Repressionswellen sind eine Reaktion der Angst.
Müssten die übrigen europäischen Länder angesichts der Lage der Menschenrechte in der Türkei nicht stärker intervenieren?
Ja. Wenn die liberalen Intellektuellen als Ratgeber der Regierung ausfallen, müssen andere diese Rolle ausfüllen: die Europäer, die Amerikaner. Irgendein Boykott wäre aber sicher nicht die richtige Antwort. Es wird eine strategische Aufgabe sein, mit Erdogan darüber zu verhandeln, wie er mit der Situation umgehen sollte.
In den 90er Jahren war die türkische Kunst eine Art Pionier der Zivilgesellschaft und Sammelbecken kritischer Intelligenz. Ist sie das immer noch?
Die Intellektuellen und Künstler sind natürlich gegen diese Repressionen. Aber wir sind an demselben Punkt wie in den 1990er Jahren. Damals avancierte die Polizei, im Sinne Foucaults, zur Instanz der biopolitischen Kontrolle über die Zivilgesellschaft. Heute wehrt sich die Szene anders – indem sie ein globales Netzwerk aufbaut. Darin sieht sie die einzige Möglichkeit eines Kampfes: eine Plattform des Widerstandes, auch gegen das Weltsystem, Multitude, wie Negri und Hardt es nennen.
Mein Eindruck ist der einer forcierten Kapitalisierung. Es gibt immer mehr teure Galerien und Kunstinstitutionen. Es ist plötzlich sehr viel mehr Geld im Spiel…
Ja. Und das ändert die intellektuelle Situation. Inzwischen haben wir schon fast mehr Sammler, Designer und Galeristen als Intellektuelle, Künstler oder Kuratoren. Gleichzeitig stagniert die öffentliche Kulturförderung. Die neue Attraktivität der Türkei haben wir nur wegen des kreativen Schubs in den neunziger Jahren erreicht. Wenn der Staat sich hier nicht stärker engagiert, werden die Kreativen in andere Länder abwandern. In die arabischen Staaten zum Beispiel.
Wie kulturinteressiert ist die muslimische Bourgeoisie, auf die sich die AK-Partei Premier Erdogans stützt?
Sie entwickelt sich langsam zu Sammlern. Sie kaufen Bilder, keine Figuration, keine Kalligrafie, sondern abstrakte Moderne. Sie haben Interesse an der Kunst, allerdings eher an alter Kunst. Sie werden ihre Augen weiter öffnen, wenn sie auf die Biennalen fahren, nach Europa, in die Staaten. Noch warten wir auf die muslimische Bourgeoisie. Ihr Modell ist Dubai. Nicht nur die Kunst, die dort verkauft wird, sondern die Stadt an sich.
Trotz des Kunstbooms beobachten viele in der Türkei eine Art Muslimisierung im Alltag. Die Grenzen zwischen Religion und Politik verschwimmen. Ist die Türkei auf dem Weg zum Kopftuchstaat?
Wieso die Türkei? Europa ist in dieser Situation. Wir leben in einer Postmigrationsgesellschaft. In Frankreich ist der Islam auf dem Weg zur ersten Religion. In der Hinsicht gleicht Paris Kreuzberg.
Ihnen macht das keine Angst?
Angst nützt Ihnen nichts, wenn sie sterben. Im Übrigen glaube ich, dass es Freiheiten auch ohne kodifizierte Rechte gibt. Ein gedeihliches Zusammenleben kann sich auch einfach durch die gelebten Beziehungen zwischen den Menschen herstellen. Deswegen bin ich auch kein Anhänger einer geschriebenen Verfassung. Sie löst nicht das Problem der Demokratie. Ich bevorzuge das englische Modell der Jurisprudenz. Im Übrigen: Mit Repression können Sie der Entwicklung, die sie beschrieben haben, nicht begegnen.
Der Maler Bedri Baykam hat davor gewarnt, die Regierung wolle einen „homo islamicus“ schaffen. Ihr Kollege, der Kunstkurator Vasif Kortun, dagegen hat die AKP als „Super-Neoliberale“ bezeichnet. Was ist die Wahrheit über die derzeitigen Machthaber in der Türkei?
Sie haben beide unrecht. Sie sind nicht vollkommen liberal, was man an ihrer Haltung zu den Universitäten, Künstlern und Journalisten sehen kann. Auf der anderen Seite stärken sie die Religionsfreiheit. Ein Teil ist repressiv, einer liberal. Baykams „homo islamicus“ sehe ich nicht.
Als Reaktion auf die jüngsten Terrorattacken der PKK hat Premierminister Erdogan kürzlich „mehr Demokratie“ versprochen. Trauen Sie seinem Versprechen?
Wir dürfen den Politikern nie trauen.
Bietet der bevorstehende Prozess der Verfassungsreform die Chance, eine andere Art von türkischer Identität zu definieren? Jenseits des kemalistischen Zwangstürkentums?
Juristisch gesehen könnte das sein. Etwa indem man nicht mehr vom Türken spricht, sondern von Bürgern der Türkei. Natürlich wäre das das Ende der Republik. Aber eine geänderte Staatsbürgerschaft schützt noch nicht vor Repression.
In den Ländern der Arabellion stößt das Beispiel der Türkei auf Interesse. Halten Sie die türkische Verbindung von Säkularismus und Islam für exportfähig?
Die Türkei ist jetzt schon das Modell für die Parteien in Marokko, Ägypten und Tunesien. Turgut Özal hat schon in den achtziger Jahren vorgemacht, wie man links und rechts, liberal und etatistisch zugleich sein kann. Für die arabische Welt ist die Verbindung von Entwicklung und Gerechtigkeit interessant, wie sie sich im Namen der AKP findet, also die Verbindung von Religion und Prosperität. Meiner Ansicht nach sind wir in einer Situation wie im 12. Jahrhundert, das einige Historiker als die Aufklärung des Mittelalters ansehen. Wie damals gehen heute Urbanisierung und Theologie Hand in Hand. Und der Geist des Arabischen Frühlings ist offen für diese Transformation des muslimischen Denkens. Die Dualität von Wirtschaft und Religion ist das große Thema des 21. Jahrhunderts. Ich glaube, die neue Aufklärung kommt aus dem Osten, aus den muslimischen Staaten. Sie haben Geld, sie mögen Technologie, Luxus, Müßiggang und Religion, die Kunst wird interessant. In Qatar werden zehn neue Museen gebaut. Was dort entsteht, ist ein neues Bagdad.
Fast neunzig Jahre Erziehung im Geiste eines rigiden Nationalismus. Ist die türkische Gesellschaft reif für so etwas wie Multikultur?
Multikultur ist das Wesen der Menschheit. So wie der Charakter aus Umberto Ecos „Der Name der Rose“, der mehrere europäische Dialekte sprich, besteht auch die Menschheit aus mehr als einer Kultur: in Spanien, Frankreich, Italien, in der Türkei, einfach überall. Die indoeuropäische Sprache ist eine multikulturelle Sprache, die finnougurische Sprache, die die Türken sprechen, ist eine. Der Ruf nach Multikultur ist eine Idiotie. Es gibt gar nichts anderes. Jeder in diesem Land ist multikulturell.
Die Dualität von Wirtschaft und Religion ist das große Thema des 21. Jahrhunderts
Interview: Ingo Arend
erschienen in taz (10.01.2012)
Ali Akay ist Professor für Soziologie an der Mimar-Sinan-Universität der Schönen Künste in Istanbul, Dozent in Paris und Berlin, Kunstkurator. 2010 erschien „Le Postmodernisme, et après?“
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