Wir schaukeln in der Luft
Versuchte Blickumkehrung: Aus Anlass des 50. Jubiläums des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens beleuchtet die Istanbuler Ausstellung „Fiktion Okzident“ die wechselseitige Wahrnehmungsgeschichte der beiden Kulturen
Im Anzug auf einem Ottomanen. So saß der französische Schriftsteller Pierre Loti 1879 im Istanbuler Stadtteil Eyüp und genoss den Blick auf das Goldene Horn. Der Fin-de-Siecle-Literat ist ein klassisches Beispiel für das, was der Literaturwissenschaftler Edward Said als den orientalistischen Blick geißelte. An seinem Boheme-Sitz fantasierte sich der Palästina-Reisende, der in China einst den Boxer-Aufstand mit niederschlug, eine Welt aus Harem, Krummschwert und Palästen zusammen. Doch dieser Orient habe weder gestern existiert, noch werde es ihn morgen geben, erboste sich der türkische Schriftsteller Nazim Hikmet einst über seinen französischen Kollegen.
Nur weil es diese imaginären Welten gar nicht gibt, sind sie nicht weniger wirkmächtig. Tagtäglich pilgern die Touristen durch die steilen Pfaden des moslemischen Friedhofs hinauf zu dem Café, wo Loti seine geliebte Nargile schmauchte. Auch das Hotel Pera, in dem Agatha Christie zu Beginn der dreißiger Jahre ihren „Mord im Orient-Express“ geschrieben haben soll, ist ein Touristenmagnet. Dass der deutsche Steuerzahler am Bosporus ein „Orient-Institut“ unterhält, ist vermutlich den Wenigsten bekannt. Immerhin verstehen sich seine Insassen auch auf die Postcolonial Studies.
Am Entstehungsort der Fiktionen vom Orient ausgerechnet eine Ausstellung mit dem Titel „Fiktion Okzident“ in Szene zu setzen, wirkt so unkorrekt wie waghalsig. Jetzt, wo mit den Feiern zum 50. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbe-Abkommens eine unerklärte Abbitte für den herablassenden Blick geleistet werden soll. Mit ihm musterte der Okzident, Abteilung Deutschland, in den sechziger Jahren die Männer in den zu engen Anzügen und dem tiefen Bartschatten, die plötzlich mit einem ramponierten Koffer und Gebetsketten in der Hand auf deutschen Bahnhöfen standen.
Doch Saids Theorem versuchsweise umzukehren, macht Sinn. Denn zu dem projektiven Blick, der sich den Orient erschaffte, gehörte auch sein Pendant. Die islamischen Schriften durchzieht seit Jahrhunderten die Vorstellung von einem fiktiven Westen. Der ebenso verzerrte wie märchenhafte Züge trug. Und auch wenn der naive Blick, mit dem die „Gastarbeiter“ in der Mitte des 20. Jahrhunderts gen Westen zogen, wenig gemein hatte mit Exotik und Bedrohung – den Bestandteilen, aus der sich der Orientalismus „seinen“ Orient braute – beide Seiten imaginierten sich ihr Gegenüber. „Für uns war vor 50 Jahren Deutschland ein Traum“ erinnerte sich der Maler Yalcin Karayagis, Rektor der Istanbuler Mimar-Sinan-Universität der Künste, am vergangenen Wochenende zur Eröffnung der Ausstellung.
Zu diesem kollektiven Traum passt es, dass der Künstler Irfan Önürmen einen pathetischen Werktätigen mit Hammer in der Hand aus Schokolade gegossen hat. Seine Installation „Arbeiter“ aus dem Jahr 2011 bildet eine Statue nach, die die Republik Türkei zum 50. Jahrestag ihrer Gründung in einem Istanbuler Park aufstellte, gleich neben dem Ausstellungsgebäude Tophane, einem alten osmanischen Waffenlager. Was dem Westen der sinnlich lockende Orient war, war dem Orient das Land in dem Geld, Arbeit und Luxus flossen. Dass die Skulptur heute ein vandalisierter Torso ist, sagt etwas über die Erosion eines transkulturellen Fantasmas.
Die ungewohnte Blickrichtung, die die von den Berlin-Istanbuler Kuratoren Johannes Odenthal, Cetil Güzelhan und Emre Zeytinoglu pointiert zusammengestellte Ausstellung vorschlägt, entlastet nicht das „komplexe System der Hegemonie“, das Edward Said attackierte. Die Künstlerin Kinay Olcaytu treibt ihren Spott damit. Unter Titeln wie „Pragmatismus“, „Terrorismus“, „Weihnachtismus“ hat das von ihr gegründete, fiktive „Okzidentalismus-Institut“ zufällige Fundstücke aus dem realen Leben zu Tableaus vermeintlich okzidentaler Bewusstseinsformen zusammengefügt.
Auf den ersten Blick wirkt es nur witzig, alte Enzyklopädien, Weihnachtsschmuck und ein Schmetterlingsnetz zu kombinieren. Der szientistischen Willkür des Orientalismus stehen diese bösen Assemblagen aber in nichts nach. Gleichzeitig ironisiert Olcaytu mit diesen Arbeiten die bizarre Art, wie sich ihre Landsleute den Westen zusammenfantasieren. Falsch ist es also nicht, wenn sie von Orientalismus und Okzidentalismus als „siamesischen Zwillingen“ spricht: Das Wechselseitige der „Konstruktion des Anderen“ prägte auch die deutsch-türkische Kulturgeschichte der letzten 50 Jahre. Die blonde Frau mit weißem Schleier und Geldscheinen auf den üppigen bloßen Brüsten auf Sedat Mehder’s Bild „Die nationale Braut“ ist nämlich auch nur eine Fantasie türkischer Männer: Eine Frau, mit der sie Sex haben (können), bis sie ihre Jungfrau heiraten (müssen).
Mythologisch betrachtet folgte die türkische-deutsche Migration zunächst dem, was der Essener Sozialwissenschaftler Hasli Hacil Uslucan auf einer parallel zur Ausstellung veranstalteten Migrations-Konferenz in der Istanbuler Bilgi-Universität das „Modell Mohammed“ nannte: Dem Verlassen der Heimat, um gestärkt in die Fremde zurückzukehren. Und obwohl keiner der 19 Künstler aus Deutschland und der Türkei diese Zeit selbst als Arbeitsmigrant miterlebt hat, gelingt es ihnen gut, die emotionale Seite eines Lebensabschnittes abzubilden, der oft tiefer ging, als geplant.
Ein berührendes Beispiel für die Einsamkeit und Isolation, die viele dabei durchlitten, ist das Schicksal des 1937 geborenen Ziya Ekici. Der Gastarbeiter der ersten Generation kam 1970 aus dem anatolischen Kirsehir nach Deutschland. Erst arbeitete er in einer Düsseldorfer Waffenfabrik, dann als Lehrer, bis er 1995 in Duisburg starb. Seinen Seelenzustand verarbeitete er insgeheim in Gedichten, die seine Tochter Nezaket Ekici, Jahrgang 1970, nach seinem Tod übersetzen ließ. Still lauschten die Eröffnungsgäste dem Vers: „Wir schaukeln in der Luft“.
Migration ist im Zeitalter der Globalisierung nicht mehr ein Exodus von biblischen Ausmaßen. Von postmigrantischen Zeiten ist die Welt aber wohl doch noch etwas entfernt. Auch wenn die Ausrüstung moderner geworden ist: Neben die brüchigen Pappkoffer der sechziger Jahre hat Denizhan Özer in seiner Installation „Luggage Room“ die Trolleys der Easy-Jet-Migranten von heute gepackt. Doch ständig zwischen den Welten zu wandern, da waren sich alle auf der Istanbuler Migrationskonferenz einig, bleibt ein strapaziöser Ausnahmezustand. Die Wissenschaftler dämpften damit die weit verbreiteten Hoffnungen auf die moderne Migration als eine Form der „Demokratisierung von unten“.
Denn dieser Ausnahmezustand mag für Kunstkuratoren attraktiv sein. Für Arbeitslose, Liebhaber oder Familienväter sieht das schon wieder ganz anders aus. „Ich habe mich in dem Dazwischen eingerichtet“ meinte der Architekt und Maler Erdoğan Altindiş auf einer Diskussion des Goethe-Instituts am Tag nach der Ausstellungseröffnung, „aber viele halten dieser Zerrissenheit nicht aus“. Der 1963 Geborene kam mit zehn Jahren aus seinem Geburtsort Kayseri nach München. Seitdem pendelt der vielseitig interessierte Intellektuelle, der 2005 in Istanbul das beliebte Ferienhaus-Unternehmen Manzara gegründet hat, zwischen den Welten im Westen und im Osten.
Das klassische Bild des Arbeitsmigranten der sechziger Jahre gehört zwar der Vergangenheit an. Auf dem Bild „Arbeitsvertrag“ des 1947 geborenen Malers Hanefi Yeter von 1977 sieht man einen ausgemergelten Mann mit überdimensioniertem Schnurrbart und Grubenlampe auf dem Helm. Im Hintergrund schweben Fetzen des bürokratischen Zwangssystems Anwerbeabkommen: Verträge, Sichtvermerke, Stempel deutscher Behörden.
Wie tief das Negativbild aber immer noch sitzt zeigt Sedat Mehders Fotoserie „Die üblichen Verdächtigen“. Da sehen die deutschen Grünen-Politiker Dilek Kolat, Özcan Mutlu oder Cem Özdemir aus, als seien sie gerade erkennungsdienstlich behandelt worden. Und als die deutsch-türkische Künstlerin Esra Ersen Kölner Gymnasiasten bat, die Köpfe von Türken mit Ton nachzubilden, ähnelten sie verblüffend denen aus Pappmache, die Habsburger Reiter 1814 beim „Türkenkopfstechen“ in Wien vom Postament schlugen. In Istanbul in einem nachgebauten Hörsaal aufgestellt, wirken die juvenilen Imaginationen plötzlich wie ein Panoptikum der Rasselehre. Das vermutlich nicht nur durch Thilo Sarrazins Kopf spukt.
Wie schwer man aus diesen Klischees herauskommt, lehrt das Beispiel Ali Kepeneks. Eigentlich wollte der Fotograf eine Skulptur von sich selbst herstellen und sie dann in Stücke reißen, um seine zerrissene Identität zu demonstrieren: „Ich bin weder Deutscher noch Türke. Ich lebe einfach alles aus“ sagt der 1968 in Bursa geborene Langzeitberliner, der wegen seines Alltagsrassismus Deutschland schließlich den Rücken kehrte und heute in London lebt.
Bei Kepenek ist die transnationale Identität, die die Migration des 21. Jahrhunderts irgendwann hervorbringen mag, noch eine Schmerzerfahrung. Die erotisch aufgeladenen Körper auf dem Werk „Religion – Sex und Gewalt“, das er am Ende dann ausstellte, sind Gezeichnete. Eines schönen Tages könnte es aber vielleicht doch noch attraktiv werden, zu sagen: Ich bin viele, also bin ich.
Text für Getidan: Ingo Arend
INFORMATION:
Fiktion Okzident – Künstlerische Positionen zwischen Deutschland und der Türkei
heißt das Projekt, das das Goethe-Institut aus Anlass des 50. Jahrestages der Unterzeichnung des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türke realisierte. Neben einer Filmreihe, Lesungen, Theateraufführungen und Konzerten präsentiert die Veranstaltungsserie auch eine Kunstausstellung, in der 19 Künstler aus Deutschland und der Türkei Werke zeigen, die das Thema der deutsch-türkischen Migration reflektieren. Die Ausstellung, die vom Ministerium für Kultur und Tourismus der Türkei und der Stiftung Mercator unterstützt wurde, ist noch bis zum 10. Dezember 2011 im Ausstellungszentrum Tophane-i-Amire zu sehen. Zu Beginn des nächsten Jahres wandert die von Johannes Odenthal, Cetin Güzelhan und Emre Zeytinoglu kuratierte Schau nach Ankara und wird von Mai bis Juni 2012 im Max-Liebermann-Haus der Stiftung Brandenburger Tor gezeigt.
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