Die Ausstellung „Paradise Lost“ im Istanbul Modern widmet sich einem der drängendsten Probleme der Menschheit
Ein Büffel in einem gewässerten Reisfeld, Wolken am Himmel, Krähen über der Landschaft, Kleinbauern mit einem Handkarren auf dem Weg zum Markt, irgendwo steht einsam ein Tempel auf einem Hügel: In „Minguo Landscape“, einer Videoarbeit des chinesischen Künstlers Qiu Anxiong, sieht die Natur auf den ersten Blick noch genau so aus, wie man sie sich wünscht: Friedlich, still, nahezu unverbraucht. Und selbst da, wo Menschen ins Bild kommen: im Einklang mit sich selbst.
Die Arbeit des 1972 geborenen Künstlers wirkt auf den ersten Blick wie der nostalgische Blick auf die Natur. Den befallen könnte, wer sich die Bilder des geborstenen Atomkraftwerks im japanischen Fukushima betrachtet. Schließlich will Anxjong mit dem Titel der Arbeit auch an eine Ära der chinesischen Geschichte – zwischen dem Ende des Kaiserreichs und der Ära von Mao Zedong – erinnern, in der noch ein anderes Naturverständnis in China herrschte als heute.
Doch die historische Referenz widerlegt sich zugleich selbst. Denn die traditionelle Technik der Landschaftszeichnungen in Tusche, die Anxjong in seiner Arbeit aufruft, wird nur durch eine Arbeitsweise der Animationstechnik so täuschend echt und lebendig. Anxjong hat die Tausende Bilder in Schwarz-Weiß, aus denen das 14-minütige Video entstanden ist, auf Leinwand gemalt und diese dann – wie beim Trickfilm – abgefilmt. Das kulturelle Erbe wird hier via High-Tech recyclet.
Man könnte die Arbeit als Metapher auf das Verhältnis von Kultur und Natur nehmen, so wie es sich seit Beginn der Menschheitsgeschichte darstellt: Als ein Verhältnis der steten, wechselseitigen Durchdringung. Es ist keine Phase der menschlichen Geschichte vorstellbar, in der die Natur nicht vom Menschen bearbeitet worden wäre. Und dass dieses problematische Stoffwechselverhältnis mehr ist als nur ein zeitweilig missglückter Gartenbau, sondern so etwas wie die Matrix der Zivilisation darstellt, demonstriert der türkische Künstler Ali Kazma.
Der 1971 in Istanbul geborene Filmemacher hat eine Serie von Videoarbeiten bezeichnenderweise „Obstructions“ genannt. Man sieht darin in peinigender Genauigkeit jedes Detail einer Gehirnoperation (Brain Surgeon, 2006), des Produktionsprozesses in einem Stahlwerk im türkischen Dilovasi (Rolling Mills 2007) und bei der Herstellung von Keramiken im Studio der türkischen Künstlerin Alev Ebbüzziya-Siesbye.
Wird man bei der ersten Arbeit der Anfälligkeit des menschlichen Körpers, mithin eines Teils der Natur gewahr, ist es bei dem Stahlwerks-Video die Gewalt, mit der der Stahl gegossen, gewalzt und geschnitten wird. Bei der künstlerischen Arbeit steht dann wieder das filigran ausgeführte Handwerk im Vordergrund, mit der hier Ton, ein Produkt der Natur, zu einem hochartifiziellen Produkt umgewandelt wird. In den drei Arbeiten lotet Kazma die ganze Spanne von den destruktiven bis zu den konstruktiven Potenzen aus, die die „Bearbeitung“ der Natur so mit sich bringt.
Doch trotz der Tatsache, dass Kultur und Natur ein fast symbiotisches Verhältnis angenommen haben, bleibt darin ein Rest von Unübersetzbarkeit. Wie man in der Arbeit „Migration“ des amerikanischen Künstlers Doug Aitken sehen kann. In dem 24-minütigen Film „Migration“ laufen nordamerikanische Wildtiere durch ein hochmodernes, menschenleeres Appartement. Wenn da ein Reh, ein Pferd, ein Büffel oder ein Biber durch diese Luxusklausen der Zivilisation irren, ergibt sich eine Situation von beklemmender Fremdheit. Kultur und Natur – das gehört einfach nicht zusammen.
Noch surrealer spitzt der belgische Künstler Francis Alys dieses Motiv zu, wenn er in seiner Arbeit „The Nightwatch“ aus dem Jahr 2004 einen Fuchs durch die Londoner National Portrait Gallery schickt. Das „Bandit“ getaufte Tier, stromert, von Videokameras überwacht, durch die Säle des Tempels der Hochkultur. Die Porträts der englischen Könige und holländischen Kaufleute würdigt er aber keines Blicks. Nur einmal scheint er den prototypischen Museumsbesucher ironisch nachzuahmen, wenn er eines der Werke mit einem flüchtigen, nur mit dem Fuchsauge blinzelnden Blickes bedenkt.
„Paradise lost“ ist eine der am überzeugendsten kuratierten Themenaustellungen der letzten Zeit in einem der großen europäischen Museen. Die von Paolo Colombo und Levent Calikoglu kuratierte Schau sollte nicht nur in Istanbul zu sehen sein, sondern auch in weiteren europäischen Stationen. Selten hat man eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst gesehen, die sich derart konsequent und anspruchsvoll mit dem drängendsten Problem der Zivilisation auseinandersetzt, ohne dabei in irgendeiner Form apokalyptisch, kulturpessimistisch oder didaktisch zu wirken. Oder auf die derzeit beliebten Dokumentarismen zu setzen.
Die Kunst erweist sich in dieser Schau auch als eine Instanz, die Seiten der Natur zur Anschauung bringt, die die Naturwissenschaft nicht wahrnehmen kann. Die amerikanische Künstlerin Pae White hat während eines Stipendiums einen Johannisbeerstrauch und eine 800 Jahre alte Eiche gescannt und in eine Animation überführt. Die wunderbar bizarren Bilder, die dabei entstanden sind, offenbaren nicht nur die biologische und strukturelle Komplexität zweier so „gewöhnlicher“ Pflanzen. Der Bauplan der Natur verwandelt sich in dem Kontext eines Museums plötzlich zu einer abstrakten ästhetischen Komposition, die dem abstrakten Expressionismus nicht unähnlich ist: Die Natur ist schön.
Paradise lost – trotz des melancholischen Untertons lässt die Istanbuler Schau keinerlei Zweifel daran, dass es eine Rückkehr zu irgendeiner ursprünglichen Natur nicht geben kann, nicht geben wird. Sie ist unwiderruflich geschädigt, verändert, verschwunden. Mag die Schweizer Künstlerin Pipilotti Rist in ihrer Installation Herbstzeitlose auch noch so furios das unberührte Urlaubsparadies der Kindheit beschwören: Auf den Videos, die eine Schweizer Blockhütte umgeben, kann der Betrachter Panoramen der Gebirgslandschaft um St.Gallen betrachten, wo die 1962 geborene Künstlerin aufwuchs. Und je länger man 21 Positionen und Kunstwerke betrachtet, desto stärker werden die Zweifel, ob „die Natur“ in ihrer Reinheit überhaupt je existiert hat.
Wie eine poetische Metapher auf diesen unwiederbringlichen Verlust, eine zivilisatorische Kränkungserfahrung allererster Rangordnung, kann man die Videoarbeit des australischen Künstlers Shaun Gladwell lesen. In dem siebenundzwanzigminütigen Film sieht man einen anonymen Motorradfahrer durch eine leere und öde Landschaft laufen. Der Mann mit Helm und schwarzer Ledermontur trägt ein totes Känguruh im Arm, eines der zahlreichen Opfer des Überlandverkehrs auf den australischen Highways – den sogenannten „road kills.
Zuerst reinigt er den Leichnam penibel von Ungeziefer und Insekten, dann trägt er ihn über den Asphaltstreifen der Fahrstrecke in die offene Landschaft zum finalen Begräbnis. Apologies 1-6 hat Gladwell die Serie genannt. In ihrer schwebenden Traurigkeit ist sie ein melancholisches Symbol für das, was dem Menschen im Umgang mit der Natur einzig bleibt: Die Geste einer immerwährenden Entschuldigung.
Ingo Arend
Paradise Lost“: Noch bis zum 24.7.2011.
Katalog, mit Essays von Paolo Colombo, Levent Calikoglu und Ilija Trojanow.
Verlag Istanbul Modern, 172 S. 65 TL
http://www.istanbulmodern.org/
Bild oben: Doug Aitken Migration, 2008 Single channel video on Blu-Ray DVD 24:22 Courtesy of 303 Gallery, New York – Galerie Eva Presehuber AG, Zurich – Victoria Miro, London – Regen Projects, Los Angeles.
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