Eine Ausstellung mit 205 Anschlägen
LEIPZIG, 04.02. – 26.02.2011
Kunstraum Benjamin Richard
In den achtziger Jahren erfreute sich ein skurriler Comic großer Beliebtheit: „Das Katzenhasser-Buch“. Norbert Golluch-Buberl, sein Verfasser, gab sich martialisch: „Ein Muss für alle, die Katzen nur mögen, wenn sie wirklich gut durchgebraten sind“, schrieb er im Klappentext, und: „Gesunder Hass erhält die Feindschaft“. Das war nicht nur metaphorisch, sondern durchaus ganz handfest, praktisch gemeint. Doch die bizarren Vorschläge zur ultimativen Katzenbeseitigung, mit denen er damals nicht nur Tierschützer auf die Palme brachte, waren nur das Spiegelbild der extremen Liebe, die den „zu klein geratenen Tigern“ (Golluch-Buberl) oft genug entgegen gebracht wird. Und noch heute Katzenhasser in Rage bringt: Auf der Website Katzenhasser No pussies inside! werden sie als „emotionale Nutztiere für emotional und / oder seelisch verkorkste Zeitgenossen“ verunglimpft. Diese liebten und vergötterten ihre „miauenden und vollkommen unnützen Kot-Produzenten“ so sehr, dass sie „zu tieferen zwischenmenschlichen Beziehungen jeglicher Art nicht mehr in der Lage sind“.
Auf dem Weg in genau diese Untiefen eines extremistischen Gefühlshaushaltes war Christian S., als er im Frühjahr 1994 in Berlin S-Bahn fuhr. „Bärli verloren“ hieß die Aufschrift auf einem kleinen selbstgemalten Plakat, das er dort an einer Säule fand. War es das überraschend Künstlerische der Kinderzeichnung? Das anrührend Emotionale, das in der Suchmeldung mitschwang? „Wer ihn gefunden hat, bitte melden, ein kleines Kind vermisst ihn sehr“ war unter der Uhrzeit und dem Ort des Verlustes zu lesen. Jedenfalls nahm der junge Wehrpflichtige die gelblich verfärbte Zeichnung mit. Und begann von da auf seinen Streif- und Beutezügen durch die Stadt und durch die Welt der Frauen, solche Plakate, wie man sie jeden Tag am nächsten Laternenpfahl finden kann, zu sammeln.
Christian S.’s piktoriale Fundsachen erfüllen den Tatbestand des klassischen Objet trouvé, jenes gefundenen Alltagsgegenstandes, wie ihn die Dadaisten um Kurt Schwitters oder Marcel Duchamp mit seinem berühmten Flaschentrockner zu einer künstlerischen Strategie entwickelten. Doch anders als diese oder die Surrealisten, für die die Definition des Dichters Lautréamonts „Schön wie die Begegnung einer Nähmaschine mit einem Regenschirm auf einem Operationstisch“ sprichwörtlich wurde, nahm Christian seine objets nicht zum Ausgangspunkt einer weitergehenden Kombinatorik oder zur exzessiven Fetischbildung. Er sammelte sie erst einfach wahllos. Bis er eines Tages entdeckte, dass hinter all diesen ungelenk formulierten Liebeserklärungen und Hilferufen auch etwas von dem eigenen Schicksal steckte.
Meist fand der 1972 geborene Tagedieb, Gelegenheitsarbeiter und Hobbyflaneur zwischen Berlin und Leipzig solche Zettel nämlich nach einer Liebesnacht, wenn er eine Frau oder sie ihn verließ. Und er oft genug nicht wusste, wie es mit oder nach dieser Zufallsbegegnung mit der Kurzzeit-Affäre weitergehen könnte. Ganz offenbar war es also nicht nur Zufall, wenn er exakt in solchen Momenten auf Plakate stieß, auf denen stand: „Ich bin untröstlich, weil ich diesen Ohrring verloren habe“. Oder hinter der Aufforderung, im eigenen Keller nach dem entlaufenen Tier des Annoncierenden, die flehentliche Bitte aufgemalt stand: „Machen Sie uns und Rubi wieder glücklich“. Sätze wie diese erhellten genau Christian S.‘s Geisteszustand zwischen der melancholischen Trauer über einen gerade erlittenen Verlust wie die nie aufgegebene Suche nach der großen Liebe. Aber wie erklärt sich der Materialist scheinbar unerklärliche Zufälle? Als individuellen Ausdruck einer überindividuellen Notwendigkeit.
Christian S. weist jeden Gedanken von sich, ein Künstler zu sein. Und doch hat seine, 205 Anschläge umfassende Ausstellung, etwas von der Objektkunst der frühen Avantgarde, die man wie eine kleine Kulturgeschichte des Alltags lesen kann. Und die die Katzenhasser-Frage, wie die Tierliebhaber, die sich da so rührend um ihre hüftgelenksgeschädigten Vierbeiner sorgen, es mit der Liebe zu den Zweibeinern halten, keineswegs unberechtigt erscheinen lässt. Sie ist mit all der bizarren Poesie und Orthografie des Alltags und der Straße aufgeladen: „entfleucht isser wohl“ heißt es auf einem Plakat über einen vermissten schwarzen Kater. Auf einem anderen wird ein „Mitzekater namens Tizian“ gesucht. Und bei manchen Tierschicksalsschilderungen tun sich panerotische Abgründe auf: „Sie ist sehr lieb und zutraulich, kinderlieb und hat sogar mit unserem Hund gekuschelt“. Man kann die Dokumente aus siebzehn Lebensjahren aber auch als indirektes Tagebuch eines obsessiv Liebessüchtigen lesen. Denn unter jedes Plakat hat Christian S. die Notizen geschrieben, die er sich bei ihrem Fund auf die Rückseite notiert hatte.
Christian S. sieht sein Projekt in der Tradition der „melancholischen Großstadtgeschichten à la Chet Baker“. Nicht nur FeministInnen dürften sie wohl eher als machistischen Spleen abtun, wenn er sie als „Symbol für mein Leben und wie ich all diesen Katzen nachstelle“ einordnet. Durch den Spruch, den er vor kurzem nach dem Verlassen einer Leipziger Backstube mit dem geradezu symbolischen Namen „Pizzeria Amore“ fand, fühlt er sich jedenfalls in seiner Hobbypsychologie wie in seiner Sammelleidenschaft bestätigt. Das dreiteilige DIN-A4-Werk mit der Aufschrift: „Du hast alles, aber auch wirklich alles, richtig gemacht“ beschließt die Schau. Die Katzenhasser dürfte das nicht beruhigen. Denn so tief sich Christian S. auch in die Katzenmythologie hineingesteigert hat – eine feste Freundin hat er bis heute nicht gefunden.
Text: Ingo Arend
Ausstellung
Christian S. „Verloren und Gefunden“
Ein fragmentarisches Tagebuch anhand von Suchplakaten für verlorene Katzen, Hunde und andere Liebschaften.
Eröffnung: Freitag, 04. Februar 2011, 19 Uhr
Dauer der Ausstellung: 04.02.2011 bis 26.02.2011
Kunstraum Benjamin Richard, Tapetenwerk Haus B, Lützner Str. 91, Leipzig
Mittwoch bis Samstag 14 bis 18 Uhr
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