Eine unschöne Angelegenheit

„Milieutheorie“, so hieß in den siebziger Jahren in der Bundesrepublik West ein veritables Reizwort. Dahinter verbarg sich die Idee: Das „Milieu“ (ein anderes Wort für soziales Umfeld) entscheidet über das Schicksal des Menschen. Das bildungsbürgerliche Establishment tat sich damals als vehementer Verfechter der Prägekraft der Gene hervor. Und war den zu dieser Zeit grassierenden, meist sozialdemokratischen Bildungsutopien (Hessische Rahmenrichtlinien, Ludwig von Friedeburg usw.) deutlich abhold. Gesellschaftskritisch sozialisierte Zeitgenossen waren natürlich bedingungslose Anhänger der Milieutheorie. Obwohl die wissenschaftstheoretische Absicherung dieser zur Ideologie erhobenen Position oft deutlich mangel- um nicht zu sagen lückenhaft war. Aber so war das halt zu dieser Zeit. Man glaubte eben an das Gute, sprich: das Entwicklungsfähige im Menschen.

 

Für seine hängende Gesichtspartie kann der Bundesbanker natürlich nichts

 

Irgendwann war die Luft raus aus dem Streit. Und die Kontrahenten einigten sich unter der Hand stillschweigend auf einen Kompromiss. Ohne „genetisches Material“ lässt sich nichts richtig entwickeln. Aber ohne sozialen Kontext geht auch nichts. Als Kronzeuge für das dialektische Bedingungsverhältnis galt der Stauferkönig Friedrich II. von Sizilien. Der hatte mit seinen heftig umstrittenen pädagogischen Experimenten herauszufinden versucht, ob es eine „Ursprache“ gibt. Gleich nach der Geburt ließ er Kinder in einen separaten Raum sperren und verbot jeglichen Kontakt zu ihnen. Nur Bedienstete durften kurz in den Raum, um Nahrung abzustellen. Der König wollte sehen, wie sich ein Mensch entwickelte, wenn ihm jeder soziale Kontakt und Erziehung von Geburt an verwehrt wird. Es nützte diesen Kindern nichts, dass sie alle vermutlich ein Sprach-Gen besaßen. Es kam, wie es kommen musste. Die Babys starben jämmerlich.

 

18 Prozent der Deutschen würden eine Sarrazin-Partei wählen

 

Irgendwie fatal, dass die Diskussion um die Integration von MigrantInnen im Allgemeinen und MuslimInnen im Speziellen vierzig Jahre später noch hinter das Niveau der siebziger Jahre zurückgefallen ist. Und dass die Öffentlichkeit den kruden Thesen des Dr. Thilo Sarrazin überhaupt so lange zugehört hat. Eine Boulevardpostille will sogar ausgemacht haben, dass 18 Prozent der Deutschen eine Sarrazin-Partei wählen würden. Das ist einigermaßen unverständlich. Denn bislang galt für den europäischen Rechtspopulismus ein fataler Zusammenhang von Ästhetik und Demokratie. Die meisten Führer dieser wiedererstarkten Strömung, von Jörg Haider über Theo van Gogh bis zu Geert Wilders waren, beziehungsweise sind, „schöne“ Menschen. Thilo Sarrazin aber ist die lebende Ausnahme von dieser Regel.

Für seine hängende Gesichtspartie kann der Bundesbanker natürlich nichts. Die hängt eben. Womöglich ist das sogar angeboren. Nein: Wir meinen ausdrücklich kulturelle Dispositionen: In Haltung und Diktion erinnert Sarrazin nämlich an Gustav Noske, der am Ende seines bewegten Lebens ja auch behauptete, dass die „ostjüdischen Marxisten“ (gemeint war Rosa Luxemburg) eine besondere „Veranlagung“ dafür besaßen, den Sozialismus zum Dogma auszubilden und Gemeinplätze in Glaubensbekenntnisse zu verwandeln. In der Art und Weise, angeblich „tabuisierte“ Wahrheiten „mutig“ auszusprechen, erinnert Sarrazin an Noskes tatkräftige Bereitschaft, unschöne Notwendigkeiten tatkräftig zu exekutieren: Einer muss den Bluthund machen.


„Deutsch lernen! An unserer Gesellschaft teilhaben!“


Der aktuelle Streit ist also mehr als eine „unschöne Angelegenheit“. Denn er ruft alle die auf den Plan, die schon immer gewusst haben, dass die Menschen von Natur eben nicht alle gleich sind. Sarrazins sehr bewußt lancierte Thesen sind Wasser auf die Mühlen der europäischen Neu- und Altrechten. Und wirft die Integrationsdebatte um Jahre zurück. Am unschönsten ist aber, dass die berufenen Interpreten der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen nun in das Horn der Gegner stoßen, um von der vermeintlichen Woge der (Volks-)Empörung nicht hinweg gespült zu werden.

„Multi-Kulti-Schwärmerei ist nicht unser Ding“, ließ sich SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles in einem Interview vernehmen. Und fuhr fort: „Wir haben das Zuwanderungsgesetz auf den Weg gebracht. Darin wurden zum ersten Mal flächendeckend Pflichtkurse Deutsch für Einwanderer festgeschrieben, Sanktionen inklusive!“ Die angebliche Parteilinke brüstet sich mit einem Ungeliebten: „Für die Integrationspolitik unseres Innenministers Otto Schily wurden wir jahrelang gescholten“. Und packt schließlich den Knüppel aus dem Sack: „Deutsch lernen! An unserer Gesellschaft teilhaben!“ Deutlicher hätte man nicht sagen können, was der ungarische Romancier György Konrad einmal als Präsident der Berliner Akademie der Künste in einer Diskussion zum gleichen Thema in die unvergessliche Formulierung packte: „Integration ist Zwang!“ Andrea Nahles mag eine schöne Frau sein. Aber Schönheit schützt vor demokratischen Dummheiten nicht.

via Ingo-Arend.de