Zwei Millionen syrische Flüchtlinge nach Deutschland

Wann handeln Leute? Wenn Nichthandeln für sie zu kostspielig wird. Die Antwort war einfach. Aber was folgt daraus? Auch die Ableitung ist nicht schwer: Wer Aktivität provozieren möchte, der muss den Preis für Ignoranz, Passivität oder Blockade erhöhen. Auch für die Eliten, auch für die, die darüber entscheiden, ob Menschen sterben und getötet werden oder eben nicht. Und genau das ist in den letzten zwei Wochen passiert, auf sehr grausame Weise für eben die, die keine Entscheidungsgewalt über Leben und Tod haben, für die Nicht-EntscheiderInnen. Sie sind gestorben, und die Bilder von ihrem Krepieren haben den amerikanischen Präsidenten dazu gezwungen, sich des Krieges in Syrien doch noch anzunehmen und eine ernsthafte diplomatische Initiative anzustrengen. Nach dem Giftgasanschlag in den Vorstädten von Damaskus am 21. August bauten die USA eine massive Drohkulisse auf, noch Anfang September schien ein Militärschlag bevorzustehen. UN-Mandat hin oder her. Und siehe da: Erstmals näherte sich Russland der US-Position in Sachen Chemiewaffen an und forderte Assad auf, er solle sein Arsenal unter internationale Aufsicht stellen. Der beugte sich dieser Forderung. Zumindest offiziell. Konkret passiert ist noch nichts.

Aber auch wenn jetzt langwierige Verhandlungen mit dem syrischen Diktator über die von seinem Regime gehorteten Chemiewaffen beginnen werden, bedeutet das noch lange keinen (besseren) Schutz für die syrische Bevölkerung. Es wird Assad nicht davon abhalten, weiter Syrer und Syrerinnen zu Zigtausenden töten zu lassen. Das vorrangige Problem in Syrien ist ja nicht, dass 1.400 Menschen in einer Nacht mit Giftgas ermordet wurden. Sondern dass seit zweieinhalb Jahren konventionelle, also international akzeptierte Waffen gegen SyrerInnen eingesetzt werden, und zwar täglich. 1.400 Giftgastote in einer Nacht sind eine Katastrophe, aber die offizielle Zahl von 100.000 Toten innerhalb der letzten zweieinhalb Jahre verweist auf noch viel, viel mehr Brutalität und Elend. Diese Zahl kursiert übrigens bereits seit Anfang des Jahres und täglich sterben in Syrien, so schätzt der BBC-Reporter Jim Muir, etwa hundert Menschen: Die „100.000“ geben damit vor allem eine Größenordnung an. Das sollte man bedenken.

Den reichen Ländern können Flüchtlinge egal sein

Sein verlautbartes Entgegenkommen in Sachen Chemiewaffenkontrolle erlaubt Assad nun, wieder als international anerkannter Gesprächspartner aufzutreten. Das könnte ihn stärken und bedeuten, dass er seine Offensive gegen die syrische Zivilbevölkerung weiter verstärken wird, mit konventionellen Waffen. Und so schnell dürften Obama oder gar die zahnlose EU keine neue diplomatische Offensive starten. Dafür war die jüngste viel zu riskant. Syrische AktivistInnen fassen die Situation auf Facebook so zusammen: „Der Westen mag keine äußerlich unversehrten Toten, er will Blut sehen.“

Die Initiative der USA zeigt damit vor allem, dass die politische Elite bisher die vorhandenen Spielräume nicht ausgeschöpft hat. Obama hätte einen Militärschlag genauso gut vor einem oder vor einem halben Jahr androhen können, also vor dem Giftgasanschlag und bevor 100.000 Menschen in Syrien ermordet wurden und rund sechs Millionen Menschen aus ihren Städten und Dörfern fliehen mussten. Um diese Zahl besser einordnen zu können: Syrien hat nach offiziellen Angaben 22 Millionen EinwohnerInnen.

Bundesinnenminister Friedrich ließ sich mit den handverlesenen Neuankömmlingen auf dem Flughafen in Hannover ablichten. Das ist schlicht lächerlich.

Bundesinnenminister Friedrich ließ sich mit den handverlesenen Neuankömmlingen
auf dem Flughafen in Hannover ablichten. Das ist schlicht lächerlich.

Jedoch, selbst wenn ein Diktator dafür sorgt, dass 100.000 Menschen sterben, ein knappes Drittel der Bevölkerung alles verloren hat – und international anerkannte Institutionen, wie das Flüchtlingswerk UNCHR, bereits seit Anfang 2013 immer wieder vor dem gigantischen Elend warnen, das sich täglich in Syrien verschärft: Egal. Das war den EntscheiderInnen egal und es konnte ihnen auch egal sein. Wie viele obdachlos gewordene SyrerInnen schaffen es denn nach Deutschland, nach Frankreich, in die USA? Nach Deutschland dürfen jetzt übrigens 5.000. Etwa vierhundert sind schon da. Bundesinnenminister Friedrich ließ sich gerade mit den handverlesenen Neuankömmlingen auf dem Flughafen in Hannover ablichten. Das ist schlicht lächerlich.

Und so gilt: Ein Land, das Flüchtlinge produziert, ist für die reichen Länder keine Gefahr, eines das Giftgastote produziert indessen schon. Bleiben sie dann nämlich immer noch untätig, verlieren sie ihr Gesicht. So will es das ungeschriebene Gesetz, so will es die Gewohnheit. Und die speist sich aus einer langen Tradition: Militärische Überlegungen, das Abwägen von richtigen und falschen Interventionen, Zeitpunkten und roten Linien, das alles wird als mutig und lösungsorientiert gefeiert. Humanitäre Interventionen gelten demgegenüber nur als reaktiv, sie lösten ja nicht das Ursprungsproblem, sondern dokterten nur an den Folgen herum. Flüchtlingspolitik, sentimentaler Mädchenkram.

Eine Sekunde umdenken

Stellen wir uns aber einmal vor: Auch die reichen Länder müssten Flüchtlinge im großen Maßstab aufnehmen. Und es gäbe einen international festgelegten Schlüssel, der Frankreich, Großbritannien, Deutschland und die USA dazu verpflichtete, das Gros der ZivilistInnen zu versorgen, wenn diese alles verloren haben. Stellen wir uns vor, es wäre klar geregelt: 6 Millionen Menschen auf der Flucht, das bedeutete zwei Millionen kommen nach Deutschland, dürfen hier bleiben, so lange sie wollen, und erhalten eine Arbeitsgenehmigung. Da wäre die Aufregung groß. Da würde es sich keine PolitikerIn leisten können, zweieinhalb Jahre wegzusehen, wenn Diktatoren, täglich Bomben auf Wohngebiete in ihrem Einflussgebiet abwerfen lassen. Da fänden alle, dass der Krieg in Syrien die Sicherheit, also den inneren Frieden von Deutschland bedrohe. Und Assad zur Vernunft gebracht werden müsse.

Die Realität sieht anders aus. Die wohlhabende Mehrheit stempelt die in Not geratene Minderheit zu Verlierern ab. Die sollen unter sich bleiben, also müssen sich die armen Länder kümmern. Die Flüchtlingslager für SyrerInnen befinden sich in Jordanien und der Türkei. Im Libanon und in Ägypten gibt es keine staatlich organisierte Versorgung der Flüchtlinge. Dennoch sind dort Zigtausende. Im Libanon etwa, ein Land mit 4,2 Millionen EinwohnerInnen, sind 530.000 Flüchtlinge offiziell registriert. Tatsächlich dürften dort, sagen Experten vor Ort, wie etwa die Leiterin der Böll-Stiftung in Beirut, Bente Scheller,  rund 800.000 SyrerInnen im Land sein. Aber was kümmert es Deutschland? Deutschland nimmt handverlesene 5.000 Flüchtlinge auf, vor allem aus dem Libanon. Trotzdem bleibt ein schlechtes Gewissen, irgendwo.

Das hat auch Herr Niebel begriffen. Erneut wegen Vetternwirtschaft in die Kritik geraten, will der Entwicklungsminister jetzt offenbar ein bisschen menscheln und forderte nun, der Familienzuzug für syrische Flüchtlinge solle erleichtert werden. Das bedeutet: Wenn SyrerInnen in Deutschland sämtliche Kosten für ihre Verwandten übernehmen, sollten diese „unbürokratischer“ aufgenommen werden. Syrien ist im deutschen Wahlkampf angekommen. Prima. Auch die Grünen fordern jetzt 50.000 Flüchtlinge aufzunehmen, was aufgrund der genannten Größenordnung schon nicht mehr ganz so verlogen daher kommt. Es bleibt, die Konditionen auszubuchstabieren. Dürfen wirklich nur Leute nach Deutschland, die hier Verwandte haben, die für sie alles bezahlen können? Was ist mit den anderen?

Knallhartes Helfen

Erst, wenn kollektiv begriffen wird, dass Militärszenarien nur dann Kriege beenden können, wenn sie als Drohung (die natürlich realistisch sein muss, sonst funktioniert die Drohung nicht) angesetzt werden und humanitären Zwecken untergeordnet bleiben, erst dann wird die Internationale Gemeinschaft nicht mehr von einem diplomatischen Desaster zum nächsten, nicht mehr von Ruanda, Irak, Afghanistan und nun über Syrien stolpern. Der Preis für humanitäres Nichthandeln muss erhöht werden. Und das klappt nur, wenn auch der Einzelne dieses nicht mehr länger – ob offen oder unter der Hand – als Pipifax abtut. Wovon auch die so genannte liberale Öffentlichkeit Lichtjahre entfernt scheint, vorausgesetzt man akzeptiert Zeitungen wie die New York Times, Washington Post, FAZ, Süddeutsche und auch die taz als Seismographen dafür, wie das mehr oder weniger liberale Bürgertum tickt. Es geht also um nichts weniger als eine Kritik an der symbolischen Ordnung und also um die kollektive Zurückweisung, dass humanitäre Hilfe kein „hartes“ politisches Thema wäre.

Mit der Arbeit des Umdenkens lässt sich übrigens jeden Tag beginnen. Bei jedem Bier,  jeder Redaktionskonferenz, jedem internationalen Treffen und jeder Budgetverhandlung gibt es Gelegenheit, die Diskussionen über Militäraktionen zu unterbrechen und die Aufmerksamkeit auf die Flüchtlingsfrage zu lenken. Doch die symbolische Ordnung anzugreifen und Fürsorge nicht länger abzuwerten und Bedürftige nicht länger als Loser zu betrachten, das verlangt Mut.

 

Ines Kappert

Bild: screenshot Website www.bmi.bund.de (Quelle: BAMF)