Am 21. November vor 200 Jahren löste der Dichter Heinrich von Kleist sein Lebensproblem, indem er sich in Berlin erschoss. Und Goethe verdarb drei Jahre zuvor in Weimar die Uraufführung eines des besten deutschen Lustspiele
„Können Sie sich einen Menschen vorstellen, Doktor“, so lässt die Dichterin Christa Wolf den Dichter Heinrich von Kleist sprechen, „der hautlos unter die Leute muß; den jeder Laut quält, jeder Schimmer blendet, dem die leiseste Berührung der Luft weh tut. So ist mir Doktor. Ich übertreibe nicht. Das müssen Sie mir glauben“.
Und man kann Christa Wolf diesen Kleist glauben, so wie sie ihn in der wunderbaren Novelle „Kein Ort. Nirgends“ entwarf. Dieses Buch handelt unmittelbar von der hoffnungslosen Verzweiflung des Dichters und es handelt mittelbar von seiner anhaltenden Wirkung auf die Nachgeborenen.
Es ist dieses Gefühl des Verlassenseins, der Vergeblichkeit, das Kleist hinterließ und das er beglaubigte, als er am 21. November 1811 am Wannsee mit derem Einverständnis erst die krebskranke Henriette Vogel erschoss und dann sich selbst. Ehe sie in den Tod gehen, bestellt Kleist im Wirtshaus Zimmer und ein Abendessen für die beiden Männer, die am Abend aus Berlin kommen werden der beiden Leichen wegen.
Diese heitere, gelöste Feier des Todes ist eine der bleibenden, prägenden Szenen der Literaturgeschichte. Dieses unbehauste Leben, diese hautlose, ungeschützte Seele eines großen Dichters haben die spätere Kleistrezeption nicht weniger geprägt als die Werke, vor allem die Dramen, selbst. Und wenn es einen gerechten Gott gäbe, dann sollte er diesen Dichter einen Blick auf die Erde gewähren, wo der berühmte, der sehnsuchtsvolle Satz seines Prinzen von Homburg nun auch für ihn gilt: „Nun O Unsterblichkeit bist du ganz mein“.
Doch ein anderer Satz des Dichters ist wohl noch berühmter, kein Figurentext, ein Satz, den er seiner Schwester Ulrike am Vorabend des Todes schrieb: „…du hast an mir getan…was…in Kräften eines Menschen steht, um mich zu retten: die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war“.
So ist es wohl.
Heinrich von Kleist, geboren in Frankfurt an der Oder am 18. Oktober 1777 als Spross einer alten Adelsfamilie, wurde seines Lebens nie froh. Und es muss, befördert durch die Umstände seines Lebens, dieses Neigung zum Unglück auch in seinem Charakter angelegt gewesen sein. „Das Gräßlichste, sagt Kleist, ist jener innere Befehl, der mich zwingt, gegen mich selbst vorzugehen.“ So lässt Christa Wolf ihren Helden sprechen und das beschreibt ihn wohl recht genau.
Mit 15 Jahren zur preußischen Garde, mit 20 Leutnant und angeekelt. Ein Studium, geschmissen nach drei Semestern. Verzweifelte Wahrheitssuche, Resignation nach dem Erlebnis Kant und dessen Gedanken einer unbestimmbaren Wahrheit: „Wir können nicht entscheiden, ob das was wir Wahrheit nennen, wahrhaftig Wahrheit oder ob es uns nur scheint… Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, ich habe nun keines mehr.“
Das Kant-Erlebnis bestätigt in Kleist wohl eher das Vorgeformte, als dass es der Ursprung der Krise ist. Jetzt ist es Rousseau, er will mit seiner Verlobten in der Schweiz als Bauer leben. Rastlose Reisen durch Europa, wie Fluchten vor sich selbst, er ersucht um Anstellungen, die er verachtet und die er, wenn er sie denn erhält, bald wieder aufgibt. Zeitungsprojekte, die misslingen.
Im Jahre 1803 verbringt er vier Monate in und bei Weimar, fruchtlos. Kein Goethe, kein Schiller. Doch immerhin Wieland in Oßmannstedt, wohin dieser ihn einlädt. Wieland äußert sich hymnisch jubilierend über Kleists Drama „Robert Guiskard“: „Wenn die Geister des Aishylos, Sophokles und Shakespeare sich vereinigten eine Tragödie zu schaffen, so würde das sein was Kleists ’Tod Guiskards’, sofern das Ganze demjenigen entspräche, was er mich damals hören ließ.“
Das ist maßlos und es wird die Maßlosigkeit Kleists befeuert haben. Und maßlos sind ja auch auch die Dramen Kleists, die meisten. Sie sind ihr eigenes Maß im Raum der deutschen Sprache und sie sind maßlos in ihren Gewaltexzessen. Später wird Kleist das Manuskript vernichten. Doch Wieland bleibt der einzige der großen Dichter, der die Bedeutung Kleists zu erkennen vermochte. Goethe war das nicht möglich.
Der Harmonie und Vollendung suchende Goethe und der sich als Seismograf der Zeit ausliefernde Kleist, sie konnten nicht zusammen kommen. Kleist, befand Goethe, sei von einer „unheilbaren Krankheit“ befallen. Das war nicht falsch, doch war es Goethe nicht gegeben, sich einer solchen Krankheit und ihren Gründen zu stellen: Er ertrug es nicht, wenn sein harmonisches Welt-Bild verschattet wurde.
Dennoch, 1808 brachte Goethe den „Zerbrochenen Krug“ in Weimar zur Uraufführung. Und gab Kleist damit den Rest. Das Werk, das bis auf den Tag als eines der zwei, drei besten deutschen Lustspiele gilt, fiel durch, woran der Theaterdirektor Goethe seinen Anteil hatte, die Fassung, die Besetzung. Und Kleist erwog, Goethe zum Duell zu fordern. Maßlos bis zum Exzess.
In dem verrätselten Essay „Über das Marionettentheater“ vermag ein eleganter, souveräner Fechter nichts über einen plumpen Tanzbären. Vollkommene Anmut, sagt Kleist, entsteht aus der vollkommenen Abwesenheit von Bewusstsein. Und es ist, als beklage der Dichter sein Bewusstsein. Als müsse der Mensch Gott sein oder Marionette, um das Leben mit Anmut zu bestehen. Immer wieder: diese Maßlosigkeit.
Und maßlos sind seine Figuren, und, in ihren stärksten Momenten, in eine Art von Bewusstlosigkeit verfallen, in einen Rausch von Todessehnsucht und Gewalt. So träumt sich Friedrich von Homburg in eine Todessehnsucht, so tötet Penthesilea rasend den Geliebten Achill, so rast die monströse Kunigunde im „Käthchen von Heilbronn“, so verliert Herrmann in der „Hermannsschlacht“ jegliches Maß – so wie Kleist jegliches Maß verlor im Hass auf Napoleons Okkupation. Und doch haben diese Figuren ihre zarten, ihre sehnsuchstvollen Augenblicke, in denen sie träumen, wie ihr Dichter. Und wenn Kleist träumte, wenn er raste, dann tat er es in einer Sprache, die singulär ist in der deutschen Literatur.
„Meine Seele ist so wund.“ schrieb Kleist. „Manchmal denk ich“, schrieb Christa Wolf ihn in den Mund, „daß ich auf der Welt bin, dieser Angst einen Namen zu finden.“
So lebt er fort, so litt er, um ein Symbol zu werden.
Henryk Goldberg in Thüringer Allgemeine, 21.11.2011
Bild: Heinrich von Kleist (1777-1811); Kreidezeichnung nach verschollenem Miniaturbild von seiner Braut Wilhelmine von Zenge
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