Wutbürger statt Kulturbürger
Es mag überraschend sein, aber es ist erhellend und beschreibend: Das Wort des Jahres heißt „Wutbürger“, gefolgt von „Stuttgart 21“ und „Sarrazin-Gen“. Und das „Schottern“ schaffte es immerhin noch auf Platz 6, direkt vor „Wikileaks“. Gewiss, der Wutbürger war bis zur gestrigen Entscheidung der Gesellschaft für deutsche Sprache so etwas wie ein Slang-Wort der Feuilleton-Szene. Doch in seiner Prägnanz beschreibt es wie kein zweites die gesellschaftliche Atmosphäre dieses Jahres. Es war gleichsam die Parole der gesellschaftlichen Leitkultur 2010. Einer Protestkultur, in der sich berechtigtes Unwohlsein über die Maßgaben und Maßnahmen der politischen Klasse vermengt mit der Bereitschaft, einen staatserhaltenden Konsens aufzukündigen. Einer Atmosphäre, in der berechtigte, massive Formen von Protest langsam und schleichend zu gemeingefährlichen Aktionen werden, die, wie das Schottern, dann auch noch Toleranz, und gar Respekt, als zivilgesellschaftlicher Widerstand erfahren. Eine Atmosphäre, in der die totale Transparenz aller staatlichen Aktivitäten zum Schlachtruf wird, der einen „Cyberkrieg“ (Platz vier) auszulösen vermag.
Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat den Wutbürger als ausschließlich positive Erscheinung beschrieben, aber er ist nicht ohne Ambivalenz. Denn dass Wut ein schlechter Ratgeber sei ist nicht nur eine volksmundliche Weisheit. Diese Wut scheint zunehmend bereit, Rationalität für zweitrangig zu erachten, wenn sie sich nur abarbeiten kann im öffentlichen Raum, möglichst laut, möglichst geräuschvoll. Als bestimme die Vuvuzela (Platz acht) nun auch zunehmen die politische Kultur in diesem Land.
Und die Debatte um Sarrazin hat eben diesen Wutbürger noch befördert und befeuert. Indem Politik und, zu Teilen, auch Medien, mit demonstrativer Empörung die dahinter stehende Sachdebatte um die Integration wegzubügeln schienen, haben sie genau dieser Wut zugearbeitet. Der Wutbürger ist ein Produkt dieser Gesellschaft – aber wenn er mehr Verantwortung zeigen will, als die von ihm kritisierte, dann sollte er sich gelegentlich an eine Haltung erinnern, die dem Bürger Wert und Maß gibt: Verantwortung. Nein, ein gutes Jahr war das nicht.
Text: Henryk Goldberg
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