Sergej Lochthofen, einst von der Redaktion gewählter Chefredakteur bei der „Thüringer Allgemeinen“, ist abgesetzt worden: Ankunft im Alltag des gewöhnlichen Kapitalismus

Eigentlich hätte er die Rede zu meinem Abschied halten sollen. Es gehört zu den protokollarischen Pflichten eines Chefredakteurs, einem scheidenden Mitarbeiter besten Dank & Wünsche zu sagen. Und womöglich hätte sich an diesem Tag der alte Satz bewährt, es seien die Stunden des Abschieds selten auch die der Wahrheit.

Sergej Lochthofen, der jetzt abgelöste Chefredakteur der Thüringer Allgemeine und ich, sein Theatermensch, waren einander nicht sonderlich zugeneigt, wir sind wohl emotional kaum kompatibel. Ich habe das lang bedauert und irgendwann nicht mehr versucht, es zu ändern. So pflegten wir einen Umgang, als dessen Geschäftsgrundlage eine Art von widerwillig-distanziertem Respekt gelten kann: Sergej Lochthofen regierte wie ein aufgeklärter Monarch und es war mitunter anstrengend, an seinem Hof den Bürgersmann zu machen. Aber irgendwann erhielt ich eine außertarifliche Gehaltserhöhung. Und noch später erfuhr ich, es sei auf seine Veranlassung hin geschehen, er hatte es mir nie gesagt. Er konnte so etwas nicht sagen, aber er hat es getan. Und wohl nie verstanden, wie wichtig einem der bekundete Respekt des intellektuell geschätzten Chefredakteurs sein kann. Ich hätte ihn gern gemocht, wenn er mir nur die Chance gegeben hätte.

Der Mann wird kein anderer, weil er nicht mehr mein Vorgesetzter ist, aber aus eben diesem Grunde kann ich das jetzt sagen: Er war objektiv der Beste. Er war es auch und vor allem aus einem Grunde, der mitunter ein Konfliktpotenzial bildete: Er versuchte die Balance von Qualität und Popularität. Eine Balance, die Journalisten nicht immer mögen, die aber für eine Regionalzeitung eine Überlebensstrategie ist. Und da gab es niemanden in Thüringen und nicht sehr viele in Deutschland, die besser waren. Lochthofen stand für die These, es sei das Ganze mehr als die Summe seiner Teile: Er band durchschnittliches in auffällige Strukturen. Es war für einen Journalisten mit einigem Ehrgeiz nie peinlich, für die Thüringer Allgemeine zu arbeiten. Unklar scheint, ob das so bleibt.

Denn der Chefredakteur musste gehen, weil er mit all seiner Sperrigkeit den letzten Damm bildete, der die Redaktion vor den Plänen des Verlages, der WAZ-Gruppe, schützte. Ein Chefredakteur mit dieser Konfliktbereitschaft wird in einer solchen Situation strategischer Entscheidungen zum Störfall. Nun haben sie den Weg frei gemacht, wohin, wird man sehen.

Die hochgradige Erregung in der Redaktion über den Rauswurf Lochthofens kennt wohl, neben der zum Teil sehr persönlichen Emotionalität, noch einen anderen Grund: Es ist das Ende der Illusionen. Es gab, vor allem bei älteren Kollegen, eine Art von romantischer Bindung an ihre Zeitung, die aus der Geschichte der Mitarbeiter mit ihrer Zeitung wuchs – der ersten unten den SED-Bezirkszeitungen, die sich im Januar 1990 unabhängig erklärte. Es gab eine romantische Vorstellung über die Kraft der Redaktion im Allgemeinen und die Sergej Lochthofens im Besonderen.

Und deshalb wurde die Klarheit, mit der hier die tatsächlichen Kräfteverhältnisse offenbar wurden, als eine Brutalität empfunden. Die Ankunft im Alltag des gewöhnlichen Kapitalismus war schmerzhaft, für uns alle. Ich war noch nicht bei der Thüringer Allgemeinen, als der Chefredakteur in geheimer Abstimmung gewählt wurde. Aber ich hätte ihn an jedem Tag dieser 17 Jahre gewählt.


Autor: Henryk Goldberg

Text erschienen in der Freitag, 30.11.2009