Henryk Goldberg freut sich über einen Kompromiss zwischen Moskau und Erfurt |
Igor bat um Wasser. Das irritierte mich ein wenig. Schließlich, ich war der Ehemann, und also die erste Hilfskraft der Gastgeberin, und hatte, nachdem alle Gäste eingetroffen waren, mich nach den Getränkewünschen erkundigt. Alle, bis auf die erwähnte Ausnahme, orderten Wein. Er war rot und aus Georgien, die Dame hatte auf Grund des großen Erfolges, wiederum einen russischen Abend ausgerufen und angerichtet. Okay, Georgien ist nicht direkt russisch, aber von Erfurt aus gesehen vertut sich das. Außerdem gab es georgische Knoblauchhähnchen, Rote Beete und russischen Käse, später Kiewer Torte und Mischka-Konfekt. Der irgendwann auch gereichte Trockenfisch fand nicht so viele Abnehmer, kann sein, es war, weil es keine „Prawda“ zum Unterlegen gab, soweit wollte die Dame dann doch nicht gehen.
Nach etwa einer halben Stunde begriff ich, dass Igor, von Haus aus ein Weißrusse aber seit vielen Jahren mit Vera in Erfurt zu Hause, ein strategisch denkender Mann ist. Denn nun bestellte er Wodka. Ich brachte ihm ein Glas, goss bisschen was rein und wollte die Flasche wieder wegstellen. Igor sah mich etwas erstaunt an, nahm mir die Flasche aus der Hand und sagte „Und die anderen?“. Ich verstand und holte die Gläser. Im weiteren Verlauf des Abends wurde auch die zweite Flasche geleert, ohne dass Vorkommnisse vorkamen. Runhard und Karsten erwiesen sich Igor als fast ebenbürtig, auch Esther und Julia hielten wacker mit, die übrigen Damen und ich blieben beim Wein.
Es wurde, wie es so geht, quer über den Tisch geplaudert, immer mal wieder versuchte jemand, das Gespräch auf Corona zu bringen, aber es gelang immer wieder, das zu verhindern, mehrere Anwesende hatten mehrfach erlebt, welchen unleidlichen Einfluss dieses Thema auf die Atmosphäre zwischen Menschen nehmen kann, die sich sonst gut leiden mögen. Irgendwie, das sollte schließlich ein russischer Abend sein, kam das Gespräch auf Moskau und jemand erinnerte sich, wie vor Jahren ein kleines deutsches Flugzeug auf dem großen Platz in Moskau gelandet war. Der sei doch aber, warf eine ein, ziemlich klein für einen Landeplatz, da sei ja der Domplatz größer. Aber da!
Aber da widersprach die Dame heftig, für sie ist der schöne Platz wohl so etwas wie der Domplatz für ein Erfurter Kind. Und niemals, niemals! sei der Domplatz größer. Ich, obgleich ein Erfurter Kind, stimmte ihr spontan zu, klar ist der in Moskau viel, viel größer. Schließlich, die Diskussion wogte wodkabefeuert, baten wir das allwissende Netz um ein abschließendes Urteil. Aber es war nicht abschließend. Über den Domplatz gibt es einen weitgehenden Konsens: 34.500 Quadratmeter, 3,5 Hektar, das nimmt sich nicht viel. Aber in und über Moskau sagen die einen so und die anderen so. Nämlich, die einen, das ist ein ungefähres Rechteck mit Kanten von 330 und 70 Metern, das wären 23.100 Quadratmeter und Erfurt der Sieger. Oder, die anderen, es sind 500 auf 150 Meter, also 75.000 Meter im Quadrat und Moskau hat gewonnen. Es liegt vermutlich an einer unentschiedenen Debatte, was der Platz alles umfasst. Nun, sagte ich, wenn die sich nicht einig sind, dann nehmen wir die Variante, die uns, uns Erfurter, gewinnen lässt. Das Nämliche nahm die Moskauer Fraktion in Anspruch, der Abend lief dennoch nicht aus dem Ruder.
Zumal die beiden Plätze ein Schicksal teilen, das sie beinahe verändert hätte. In Moskau wollten sie damals das GUM abreißen und monumental der Helden gedenken. Der gute alte Domplatz war drauf und dran, ein Thälmann-Platz zu werden mit entsprechendem Denkmal. In beiden Fällen half ein Tod, dort der Stalins, hier der der DDR.
So gingen alle zufrieden beschwingt nach Hause, nur Runhard und Sabine schliefen bei uns. Als ich am Morgen den Tisch, er war neu und wir waren jetzt nur noch vier Menschen, wieder zusammenschieben wollte zum Frühstück, ging es nicht. Ich rief Runhard zu Hilfe, wir krochen untersuchend unter den Tisch, auch Sabine beteiligte sich. Es dauerte kaum eine halbe Stunde, dann war alles gut. So bewahrheitete sich doch noch das Motto eines gelungenen russischen Abends: „Wodka her und Trockenfisch, heut treffen wir uns unterm Tisch.“
Henryk Goldberg | Thüringer Allgemeine 08.11.21
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